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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut
Autoren: Elke Pistor
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Ich war mir sicher, dass sie mir nachstarrte.
    * * *
    Mama war weg. So lange schon. Sie hatte das Knallen der Schranktüren gehört. Im Elternzimmer neben ihrem. Sie hatte die Schritte gehört. Über die Treppe. Durch die Diele. Das Schloss der Haustür klackte. Von oben hatte sie zugesehen, von der Empore, wo sie gesessen und den Worten der Erwachsenen gelauscht hatte, obwohl sie sie nicht hören wollte. Mama war weg. So lange schon.
    Bald würde Papa ins Kinderzimmer kommen und sie in den Arm nehmen. Trösten. Übers Haar streichen. »Du bist wichtig. Niemand sonst.« Sie wusste, dass Papa sie lieb hatte. Er hatte es ihr immer wieder versichert. Wenn sie weinte und wenn sie sich allein fühlte. Papa war da. Immer.
    Sie verkroch sich in ihrer Decke. Sie fror. Trotz der Wärme. Aus der Sicherheit ihrer Höhle heraus begann sie, die Dinge zu betrachten, die im Halbdunkel wie bedrohliche Schatten auf sie einzustürmen schienen. Spielzeuge, Möbel, Kleidung. Ein großer Teddybär war umgefallen und lag auf dem Rücken, die Beine starr in die Höhe gestreckt.
    Sie zog sich die Decke über den Kopf, schloss die Augen und horchte auf ihren eigenen Atem. Sie spürte, wie die Hitze aus ihren Lungen die Luft unter der Decke erwärmte und die Kälte vertrieb. Das Zittern hörte auf. Als kaum noch Sauerstoff vorhanden, ihr Atem keuchend und der Drang nach Luft übermächtig geworden waren, schlug sie die Decke zurück, setzte sich auf und stellte sich den Bedrohlichkeiten.
    Wenn ich es ändere, dachte sie, wenn ich es ändere, dann wird es besser werden.
    Im Halbdunkel stand sie auf, tastete nach dem Teddy und setzte ihn aufrecht hin. Für einen kleinen Moment vergrub sie ihr Gesicht im dichten Fell des Bären und sog den Geruch ein. Dann küsste sie den Bären auf die Nase und schob ihn in eine Ecke. »So«, sagte sie laut, »da wird es dir gefallen. Da kippst du nicht mehr um.«
    Als Nächstes hob sie alle Kleider auf, pflückte sie vom Stuhl und von dem kleinen Garderobenständer. Sie faltete eines der Gespenster nach dem anderen und legte sie in die Schublade der Kleiderkommode. Ihr Blick wanderte durch den Raum. Der Schreibtisch.
    Papa hatte ihn neben die Tür geschoben, aber da stand er nicht gut. Sie wollte aus dem Fenster sehen können, während sie dort saß und arbeitete. Sie staunte, wie einfach es war, den Tisch zu verschieben. Auf dem glatten Parkett rutschten die Beine wie über eine Eisfläche. Besser. Jetzt der Sessel. Es war schwerer, den Sessel zu bewegen, aber es ging.
    Das Bett? Wenn das Bett an der Wand gegenüber dem Fenster stehen würde, könnte sie die Sterne sehen. Das wäre gut. Sehr gut.
    Das Bettgestell ruckelte und quietschte, als sie mit all ihrer Macht dagegendrückte. Aber es bewegte sich. Zentimeter um Zentimeter. Bis es schließlich da stand, wo das Licht der Sterne auf es fiel.
    Sie betrachtete ihr Werk.
    Besser. Viel besser.
    So hatte sie keine Angst mehr.
    So war alles, wie sie es haben wollte.
    Sie kroch wieder in ihr Bett und zog die Decke hoch. Sie war noch warm. Sie konnte die Sterne sehen.
    »Was zum Teufel …?« Die Tür zum Zimmer flog auf, und ihr Vater stand da. Im Gegenlicht des Flures erkannte sie nur einen großen, schwarzen Umriss. Und sie erkannte die Stimme. Sie erkannte die Tonlage, und sie erkannte die unterschwellige Wut.
    Der Vater machte einen Schritt in den Raum hinein und erstarrte. Sie verkroch sich unter ihrer Decke und blies warmen Atem an ihrem Körper entlang. Hier ist es warm. Hier ist es sicher. Hier ist es warm. Hier ist es sicher. Ein Mantra.
    Warm. Sicher. Warm. Sicher.
    Die Kälte, als die Decke fortgerissen und in eine Ecke geworfen wurde, traf sie härter als die Worte, die ihr der Vater entgegenschleuderte. Sie rollte sich zusammen, duckte sich.
    »So ein Chaos zu veranstalten, du dummes Gör!«
    Das Kopfkissen wurde unter ihr weggezogen. Die Stimme des Vaters kippte. »Wenn du meinst, du könntest hier machen, was du willst, hast du dich gewaltig getäuscht! Sofort!« Er riss sie an ihrem Arm aus dem Bett. »Los, räum auf!«
    Sie wagte nicht zu widersprechen. Diesmal stockte der Schreibtisch an jeder Fuge des Bodens. Bis sie den Sessel und das Bett wieder zurückgeschoben hatte, war sie außer Atem, und die Muskeln in ihren Armen zitterten.
    Sie weinte. Der Vater stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. Als alle Möbelstücke wieder an ihrem alten Platz standen und sie sich in ihre Decke geflüchtet hatte, setzte sich der Vater auf die Kante des
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