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Geliebter Boss

Geliebter Boss

Titel: Geliebter Boss
Autoren: Jo Hanns Roesler
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Geldbriefträger eigentlich für ein Trinkgeld bei dieser Summe? Eine Mark? Oder fünf? Oder gar noch mehr? Bei 60 000 Mark spielt das keine Rolle. Das hat mit Geld schon nichts mehr zu tun. Das ist der Gegenwert für ein Haus, ihr Haus in Birkenhain mit dem großen Garten bekäme man dafür. Wenn der Briefträger das Geld für das Haus brächte, gäbe die Mutter ihm in ihrer ersten Verwirrung sicher zwanzig Pfennig Trinkgeld und würde ihn dann nochmals zurückrufen, um ihm weitere dreißig Pfennig in die Hand zu drücken.
    So ist das mit so viel Geld. Sie hat 700 Mark Gehalt im Monat, wie lange müßte sie wohl arbeiten für die 60 000 Mark? Wollen wir einmal rechnen. Zuvor gehören die sozialen Beiträge abgezogen. Netto bekommt sie 550 Mark ausbezahlt, das sind 6600 im Jahr, neun Jahre müßte sie also jeden Morgen um acht Uhr in die Bank kommen und um fünf Uhr gehen, neun volle Jahre, bis dahin ist sie fünfunddreißig, mein Gott, wie alt schon! Und hier bekommt einer das Geld schon heute, eine Eintragung, ein Federstrich, und neun Jahre Gehalt hat er schon übermorgen früh, er braucht nur zwei Nächte darüber zu schlafen, und sie, Birke, hat bis dahin noch 3298 Nächte vor sich, 3298 Straßenbahnfahrten in der Früh, um in die Bank zu kommen, und ebenso viele am Abend in der überfüllten Straßenbahn nach Hause. Sie wird eine alte Frau bis dahin, hat nichts vom Leben gehabt, nie ein schönes Kleid, nie aparte Schuhe, nie eine Reise, eine Schiffsreise gar oder das Meer gesehen! 3298 Arbeitstage, und ein anderer braucht nur zwei Nächte darüber zu schlafen, dann wird ihm das Geld ausgezahlt. Auf Heller und Pfennig. Und sie kann sich nicht einmal eine kleine Urlaubsreise gönnen!
    Übermorgen früh beginnt ihr Urlaub. Drei Wochen währt er nach Tarif und noch fünf Tage für Überstunden, das ist schon alles besprochen. Übermorgen früh fährt sie, das sind fast vier Wochen Urlaub, auf den sie ein ganzes Jahr gespart hat.
    Der Urlaub steckt in ihrem Sparschwein daheim in ihrem Zimmer auf dem Klavier. In zwölf rosaroten Sparschweinen, wie sie die Bank gratis verteilt. Morgen ist »Großes Schlachtfest«. Zwölf rosarote Sparschweine müssen daran glauben. Jeden Tag hat sie drei Mark in den Schlitz gesteckt. Außer am Sonntag. Sonntag ist eine Ausnahme. Sonntags ist sie im Sommer mit ihren drei Mark zum Baden an den kleinen versteckten See gefahren, wo es noch keine teuren Badekabinen gibt, überhaupt keine Badeanstalt, sondern wo man im Freien mitten im Wald baden kann. Im Winter hat sie ihre drei Sonntagsmark zum Skilaufen gebraucht, als Fahrgeld zu dem kleinen Ort, der keinen Skilift hat, nur einen alten Gasthof zum Aufwärmen, und für einen Teller Suppe. Vor der Tür des Gasthofes hält der Sonderomnibus der Post, der nur am Sonntag eingesetzt wird, für Leute, die kein Wochenende machen können, sondern Sonntag früh mit verbilligter Fahrt hinausfahren und abends in die Stadt zurückkehren, denn ein wenig frische Luft braucht der Mensch. Das wissen auch die Leute von der Post.
    Letzten Sommer einmal, an dem versteckten See im Wald neben dem Steinbruch, hatte ihr ein Mann beim Baden zugesehen. Das Wetter war an diesem Sonntag unsicher. Sie waren die beiden einzigen Menschen am See. Er war um die Fünfzig herum, sehr groß, trug einen schwarzen Pullover und starrte immer zu ihr hin. Sie schwamm ein wenig weiter von ihm weg, stieg dann ans Land und setzte sich auf eine der drei am Waldrand festgefügten Holzbänke, vor den in die Erde gerammten, aus ungehobeltem Holz gefertigten Tisch, wo sie ihr Mittagessen auf dem Papier ausbreitete. Drei Äpfel aus einem Papiersack, zwei trockene Semmeln und ein paar Scheiben Hartwurst, Sonderangebot vom Supermarkt, das war ihr ganzes Mittagessen. Mitten im Essen hatte es plötzlich zu regnen begonnen.
    Da war der fremde Mann von hinten aus dem Wald mit einem Schirm an ihren Tisch getreten, es war ein riesengroßer Schirm, wie man ihn heute selten sieht, und hatte den Schirm über ihren Tisch gehalten.
    »Nasse Semmeln schmecken abscheulich!« hatte er gesagt und sie gezwungen, ihre trockenen Semmeln im Trockenen zu essen, unter dem Schirm.
    Über ihn selbst reichte der Schirm nicht. Aber die Äpfel und Wurstscheiben lagen wenigstens im Trockenen, während der Regen heftig auf den Schirm niederprasselte.
    »Ein Mädchen wie Sie müßte man heiraten«, sagt er unvermittelt, »ich beobachte Sie schon die ganze Zeit.«
    »Was bringt Sie auf den Gedanken, mich heiraten zu
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