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Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)

Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)

Titel: Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)
Autoren: Svetlana Sekulic
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sitzt ja
mir direkt gegenüber. Ich brauche ihn nur anzuschauen, um
festzustellen, dass er nichts dafür kann. Ich überlege, ob
ich mich auch so lässig geben sollte, indem ich mir Zeit lasse
bei meiner Wortwahl und ein wenig die Mundwinkel nach unten ziehe.
Ich überlege für einen weiteren Moment, aber ich merke
selbst, dass sich nichts in meinem Gesicht nach unten ziehen lässt
und ich ihn mit seiner Hässlichkeit alleine dastehen lassen
muss. Auch bin ich nicht gemächlich und habe keine Geduld bei
meinen Emotionen und auch sonst nicht bei meinen Entscheidungen. Aber
irgendwie weiß ich, dass ich sein Sohn bin und es mir ein
Anliegen war, ihm zu begegnen, um vielleicht seinen Körperduft
noch einmal einatmen zu können. Ich überspringe diese
Feststellung wiederum und überlege mir, dass ein Mensch, wenn er
etwas wissen möchte, wenn ihn etwas interessiert, automatisch
und von ganz alleine Fragen stellt. Nicola, mein Vater stellt keine
Fragen und somit war mir alles klar und auch, dass ein Mensch, der
nichts zu reden hat, somit nichts zu fragen hat und an nichts
interessiert ist, vielleicht viele Gedanken hütet, aber
irgendwie habe ich viel mehr Gedanken in meinem Kopf, als er im
Moment je haben wird und ich rede gerne und bin neugierig geblieben
und habe nicht vor, irgend etwas zu hüten und nicht nichts zu
fragen, auch weil ich dreißig Jahre jünger bin als er und
das Leben noch liebe, obwohl es nicht immer heiler Sonnenschein für
Mutter und für mich war und wir uns trotzdem den Humor, das
Lachen und das Weinen bewahrt haben. Dafür habe ich den Umgang
mit Egozentriker und mit Autisten nicht gelernt, nicht in der Schule
und nicht in der Welt da draußen und werde langsam unsicher.
Ich frage mich, warum mich Mutter nicht aufgeklärt hatte. Noch
gebe ich die Hoffnung nicht auf und versuche in seine Welt
einzutauchen. Zuvor klopfe ich vorsichtig an seine Tür und frage
damit, ob ein Einlass auch genehm ist. Ich höre ihn nicht herein
sagen und höre ihn auch nicht mich neugierig herein bitten. Ich
bleibe draußen stehen und fange an zu zweifeln. Das halte ich
allerdings nicht lange aus und frage ihn irgend etwas, nur um gefragt
zu haben. Alles läuft wie gehabt ab. Er lässt meine Frage
erst in seinen Kopf einherziehen, für einige Sekunden gemächlich
dort verweilen, lässt korrekt sortieren und gemäß
einer Rangordnung von Wichtigkeit und Nichtigkeit sie in einer Ecke
des Gehirns wiederum ablegen. Ich warte . Ich habe noch nie ein
Problem gehabt, mit dem Warten. Ich frage mich, ob ich irgendetwas
Falsches gesagt haben könnte, etwas Falsches in dem Sinne, dass
er sich sträuben müsste, darauf zu antworten und wollte
gerade meine Frage revidieren, als er seine Lippen bewegt, seine
Mundwinkel nach unten zieht und seinen Mund hässlich aussehen
lässt. Ich konzentriere mich auf seine Stimme. Die Stimme ist
sehr schön, sehr klangvoll. Eine schöne ausgefeilte
Sprache, stets wohl überlegt und bestens kontrolliert in der
Wortwahl und der Aussprache. So könnte ich niemals reden und so
kann sich auch kein Alkoholiker ausdrücken und Autisten gleich
gar nicht, kommt es mir plötzlich in den Sinn. Hatte ich nicht
einmal gelesen, dass Autisten so gut wie gar nichts reden? Dass sich
die Umwelt erst einmal mühselig einen Weg zu deren Welt schaffen
muss, bevor ihnen Einlass gewährt wird? Ich denke, dass werde
ich heute nicht mehr schaffen und zum Glück sehe ich auch nicht
so beim Reden aus. Er hat zu Ende geredet, mit keiner Emotion und mit
keiner Mimik, weder mit seinen Augen, noch mit seinen Händen
oder mit sonst etwas. Mir fällt nichts mehr dazu ein. Ich warte
weiterhin. Warte auf eine Frage von ihm oder auf sonst irgend etwas.
Irgend etwas, dass von Interesse zeugen könnte, seinerseits und
das mir wiederum. Am allermeisten habe ich auf eine Erklärung
von ihm gewartet. Warum er damals abgehauen ist und mich mit meiner
kleinen Ziehharmonika im Flur hatte stehen gelassen, ohne das Ende
des Liedes anzuhören und am meisten war ich auf mich selbst
wütend, da ich über Jahre hinweg auf sein Zurückkommen
gehofft hatte. Wütend darüber, dass ich als Kind nichts
begriffen hatte und das hat mich so ohnmächtig gemacht und so
beweglich in meiner Wut, dass ich von einer Brücke runter
gesprungen bin, um in das kalte dunkle Nass des Nichts einzutauchen.
Und das war gut so. So wurde ich ins düstere Wasser der Welt
hinein geschmissen und herunter gezogen und ich bin hinab getaucht
und von ganz alleine wieder
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