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Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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Vorkehrungen getroffen werden. In einer Stunde gibt es Mittagessen, und die eine Toilette, zu der sie Zugang haben, ist überlastet.«
    »Hast du mit der Leiterin gesprochen?« Dagný drückte die Kamera kräftig nach unten, damit sie die Tasche zumachen konnte.
    »Ja, sie ist ziemlich unzufrieden mit der Situation, hat zwar Verständnis für unsere Arbeit, ist aber trotzdem genervt. Den Kindern wird langsam kalt.«
    Freyr rechnete damit, dass Dagný ihn anfahren würde, die Kinder sollten sich eben ein bisschen zusammenreißen, aber sie war ungewöhnlich verständnisvoll. »Sie können in einer halben Stunde in den kleineren Raum. Der war fast leer, und es ist nicht viel beschädigt worden. Aber sie müssen mit den Tellern auf dem Schoß essen, ich habe noch keine heilen Möbel gesehen.«
    »Ich sage der Frau Bescheid. Sie ist bestimmt froh.« Veigar verschwand durch die Tür. Er ließ sie offen, so dass Dagný und Freyr die sinnlose Zerstörung im Flur vor Augen hatten.
    »Ich sollte dann wohl mal los. Ich glaube, ich kann hier nicht mehr viel ausrichten – falls ich überhaupt helfen konnte.« Freyrs Blick wanderte wieder zum Fenster und zu den spielenden Kindern. Sie wurden immer unruhiger. Wahrscheinlich bekamen sie langsam Hunger. Freyr fiel ein drei- oder vierjähriger Junge besonders auf, nicht, weil er ihn an seinen Sohn erinnerte, sondern weil er im Gegensatz zu den anderen Kindern wie angewurzelt dastand und ihn durchs Fenster anstarrte. Dem Gesichtsausdruck des Jungen nach zu schließen, schien er Freyr für den Übeltäter zu halten, der den Kindergarten verwüstet hatte. Man hatte zwar versucht, die Kinder fernzuhalten, aber sie hatten trotzdem gespürt, dass etwas nicht stimmte. Der Junge mit dem unbewegten Gesicht wirkte überhaupt nicht ängstlich, sein Blick zeugte von einer unterdrückten Wut, die sich offenbar gegen Freyr richtete. Freyr versuchte zu lächeln und winkte dem Jungen zu, aber sein Gesicht blieb starr.
    »Winkst du dem Jungen zu?« Dagný hatte sich neben ihn gestellt und zeigte auf den Jungen in dem grünen Winteroverall. »Ein merkwürdiges Kind.« Sie strich sich über den Arm, so als friere sie, obwohl sie im Warmen war.
    »Ich glaube, er denkt, dass ich der Übeltäter bin. Jedenfalls glotzt er mich so an. Vielleicht ist er vor Angst erstarrt.«
    Dagný nickte. »Komisch, dass nicht noch mehr Kinder solche Angst haben.«
    »Die meisten haben sie wahrscheinlich verdrängt und beim Spielen vergessen. Kinder haben ein unglaubliches Talent, Unangenehmes auszublenden, aber der Kleine scheint anders zu sein.« Freyr konnte seinen Blick nicht von dem Jungen lösen. Die anderen Kinder waren dem Ruf der Kindergärtnerin gefolgt, zum Essen ins Haus zu kommen. Der Junge musste ihn auch gehört haben, aber er bewegte sich nicht und wandte seinen Blick nicht vom Fenster ab. Plötzlich kam die Kindergärtnerin und zog ihn weg. Im Gehen drehte er sich um und ließ Freyr nicht aus dem Blick. Erst als er um die Ecke ging, wurde ihr Augenkontakt unterbrochen.
    »Na so was!« Dagný hob die Brauen und trat vom Fenster zurück. »Wenn ich dich nicht am Wochenende getroffen hätte, hätte ich allen Grund, dich nach deinem Alibi zu fragen.« Sie lächelte, was selten vorkam, was wiederum angesichts ihres hübschen, offenen Lächelns sehr schade war. Seine Exfrau hatte viel gelächelt, bis das Leben ihr jeglichen Grund dazu genommen hatte. Freyr lächelte zurück, glücklich, dass Dagný ihn überhaupt beachtete. Doch ihr Gesicht wurde sofort wieder ernst. »Vielleicht bin ich ja verrückt, aber ich hab ein ganz merkwürdiges Gefühl bei der Sache.«
    Freyr ließ seinen Blick über das Chaos schweifen. »Nein, es gibt allen Grund, beunruhigt zu sein und sich Gedanken darüber zu machen, auf welche Idee dieser Typ als Nächstes kommt.«
    »So meine ich das nicht. Es ist so ein seltsames Gefühl, als hätte ich was vergessen oder übersehen, als würde etwas anderes hinter der Sache stecken als krankhafte Zerstörungswut. Ich hatte gehofft, du könntest es erklären.«
    Freyr schwieg einen Moment und dachte über eine Antwort nach. Er wollte sich ihr gegenüber nicht wie ein Psychiater verhalten und die beiden Dinge – die Spuren des Wochenendes als Beteiligter der polizeilichen Ermittlungen zu begutachten und mit ihr persönlich zu reden – voneinander trennen. Einer der Gründe, warum er den Job in Ísafjörður angenommen hatte, war der, dass er dabei auch als Allgemeinmediziner arbeiten konnte.
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