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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Autoren: Douwe Draaisma
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schien, verwandelte sich in ein Fenster. Er erkannte es, es gehörte zum Dach eines unweit stehenden Hauses. Außerdem sah er Landschaften, eingerahmt wie Gemälde, eine Stadt in der Ferne, einen Wald, einen Springbrunnen, dessen Wasser im Wind zerstäubte. Was das Format der Bilder betraf, so hatte er einmal die Probe aufs Exempel gemacht. Auf einem hundert Meter entfernten kleinen Platz stand ein Springbrunnen. Wenn er das blaue Taschentuch beim Springbrunnen sah, hatte dieses die Größe eines stattlichen Tischtuchs. Sah er das Taschentuch vor dem Tisch, an dem er aß, war es nicht größer als ein Daumen im Quadrat. Auch andere Bilder veränderten ihren Umfang mit der Entfernung.
    Zum Schluss diktierte Lullin noch einige Dinge, die ihm aufgefallen waren. Die Bilder traten nie auf, wenn er im Bett lag, weder im wachen noch im schlafenden Zustand. Die Bilder glitten in vollkommener Stille vorbei, auch die von plaudernden Menschen. Nach den beiden Herren, die seine Enkelinnen zu begleiten schienen, hatte er in seinem Zimmer keine weiteren Männer mehr gesehen. Auf der Straße dagegen sah er nie Frauen. Alle Personen zeigten sich ihm von ihrer linken Seite. Die Bilder kamen immer von links und verschwanden auch wieder links hinter ihm. Aber das linke Auge hatte nichts damit zu tun, stellte er fest: Wenn er die Augen abwechselnd schloss, erschienen die Bilder dennoch, sie kamen sogar, wenn er beide Augen mit einem Taschentuch bedeckte.
    Aber am meisten hatten ihn jedes Mal die Personen berührt. Eines Morgens stand er in aller Ruhe an seinem Fenster und rauchte eine Pfeife, als er links einen Mann stehen sah, der entspannt am Fensterrahmen lehnte. Der Mann war einen Kopf größer, sonst sah er genauso aus wie er selbst: Er rauchte ebenfalls Pfeife, trug die gleiche Mütze und exakt den gleichen Morgenrock wie er. Am nächsten Morgen war er wieder da, er sollte zu einer vertrauten Erscheinung werden. Die Bilder von Personen waren am 10. August gekommen und bis Anfang September geblieben, danach war es vorbei. Nur seinen Pfeife rauchenden Doppelgänger sah er noch bis Oktober, wenn auch etwas verschwommener -zweifelsohne, weil es morgens in dieser Jahreszeit etwas nebliger war.
    »EIN SEHR MERKWÜRDIGER FALL«
    Das Diktat steht in einem großformatigen Heft von achtzehn Seiten. Nicht weniger als fünf Unterschriften sollten für die Authentizität des Dokuments bürgen: die erste Unterschrift ist von Lullin selbst, kaum mehr als ein Gekritzel, danach Unterzeichneten der Sekretär, ein Vorleser, der Hausarzt und ein Enkel Lullins, Charles Bonnet. Letzterer ist die Schlüsselfigur in der Geschichte eines Phänomens, das -viel später - >Bonnet-Syndrom< heißen sollte. Dass er seine Erfahrungen so genau festgehalten habe, schrieb Lullin, sei vor allem auf Drängen von Bonnet geschehen, »diesem großen Naturforscher und Physiker« 4 . Charles Bonnet hatte tatsächlich schon einen Ruf in der Wissenschaft. 5 Dieser beruhte vor allem auf seiner Arbeit als Entomologe: Seine Beobachtungen des Ameisenlöwen hatten ihm schon mit zwanzig eine Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der Academie des Sciences eingebracht. In der Zeit, als sein Großvater die seltsamen Bilder sah, arbeitete er an einem Buch über psychologische Themen, dem 1760 erschienenen Essai analytique sur les facultes de l’äme. 6 Im Kapitel über den Gesichtssinn nahm Bonnet einen kurzen Bericht über die Erfahrungen »eines Greises« auf. 7 Dabei handle es sich um »einen sehr merkwürdigen Fall, man könnte ihn als zu fantastisch abtun, würde er nicht auf einem vollkommen verlässlichen Zeugnis beruhen«. 8 Bonnet hielt den Bericht absichtlich kurz, er beabsichtigte, später ausführlicher darüber zu schreiben. Dazu kam es jedoch nicht. Der zweiten Ausgabe 1769 fügte er noch als Fußnote hinzu, bei dem erwähnten Greis handle es sich um seinen Großvater mütterlicherseits. Dieser sei 1761 gestorben und bis zum Ende bei klarem Verstand und mit einem ausgezeichneten Gedächtnis gesegnet gewesen. Das Diktat, merkte Bonnet an, befinde sich nun in seinem Besitz, er verwahre es als »ein äußerst sonderbares Stück Psychologie« 9 . Nach Bonnets Tod im Jahr 1793 geriet es unter die Papiere eines Genfer Augenarztes und tauchte dort um 1900 zufällig wieder auf. Erst 1902 erschien Lullins Diktat in gedruckter Form, als der Psychologe und Philosoph Flournoy seine neue Zeitschrift Archi-ves de psx/chologie damit eröffnete. Bis zu diesem Zeitpunkt waren
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