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Geheimnisse einer Sommernacht

Geheimnisse einer Sommernacht

Titel: Geheimnisse einer Sommernacht
Autoren: Lisa Kleypas
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von Mr. Hunt sein.“
    „Welche Überraschung“, witzelte Lillian, denn sie alle teilten Annabelles Abneigung.
    Ein Emporkömmling zu sein, war ja nicht weiter schlimm, zumindest nicht, wenn der Mann sich wie ein Gentleman benahm und ein gesundes Maß an Zurückhaltung besaß. All das zeigte Mr. Hunt aber nicht. Es war unmöglich, eine kultivierte Konversation mit einem Mann zu führen, der stets das aussprach, was er dachte, egal, wie ungalant oder anstößig seine Ansichten waren.
    Vielleicht sah Mr. Hunt gut aus. Annabelle vermutete, dass einige Frauen seine starke männliche Ausstrahlung attraktiv fanden. Zugegeben, dieser Anblick von gezügelter Kraft in einem steifen, schwarz-weißen Gesellschaftsanzug erregte auch ihre Aufmerksamkeit. Dennoch – Mr. Hunts fragwürdige Vorzüge wurden von seinem ungehobelten Charakter völlig außer Kraft gesetzt. Er war unsensibel, besaß absolut kein Feingefühl, keinen Glauben an Ideale, keinen Sinn für Eleganz … Er kannte nur Geld, war selbstsüchtig und berechnend. Jeder andere Mann in seiner Situation hätte so viel Anstand besessen, sich seiner Unkultiviertheit zu schämen. Nicht so Mr. Hunt – der hatte offensichtlich beschlossen, diesen Mangel zu einer Tugend zu machen. Er liebte es geradezu, sich über die Rituale und Umgangsformen der aristokratischen Gesellschaft lustig zu machen. Oftmals glitzerten seine kalten, dunklen Augen amüsiert, so als ob er heimlich über sie alle lachte.
    Zu Annabeiles Erleichterung hatte Hunt sie allerdings nie – weder mit einer Geste noch mit Worten – daran erinnert, dass er ihr vor langer Zeit während der Panoramaschau in der Dunkelheit einen Kuss gestohlen hatte. Im Laufe der Zeit war sie fast zu der Überzeugung gekommen, dass sie sich die ganze Angelegenheit nur eingebildet hätte. Im Nachhinein erschien alles so unwirklich – insbesondere ihre eigene inbrünstige Reaktion auf die Dreistigkeit eines Fremden.
    Zweifelsohne teilten viele Leute Annabeiles Abneigung gegenüber Simon Hunt, aber zum Leidwesen der feinen Londoner Gesellschaft konnte man ihn nicht übergehen. In den vergangenen Jahren war er unvergleichlich reich geworden, indem er Mehrheitsbeteiligungen an Fabriken, die Landmaschinen fertigten, Schiffe und Lokomotiven bauten, erworben hatte. Und so wurde Hunt trotz seiner Grobschlächtigkeit zu Veranstaltungen der Oberklasse eingeladen. Er war einfach viel zu vermögend, als dass man ihn ignorieren konnte. Hunt war die personifizierte Drohung, die Industrie und Handel für die britische Aristokratie mit ihrer jahrhundertealten Verankerung in der Landwirtschaft darstellten. Der Adel beobachtete ihn mit versteckter Feindseligkeit – und dennoch gewährte er ihm, wenn auch zähneknirschend, Zutritt in seine geheiligten Zirkel. Und zum Dank legte Hunt nicht einmal Demut und Bescheidenheit an den Tag, nein, er schien es vielmehr zu genießen, dass er sich Zutritt zu einer Gesellschaftsschicht verschaffen konnte, in der er nicht erwünscht war.
    Seit jenem Tag im Panoramatheater waren sich Annabelle und Simon Hunt nur einige Male begegnet. Immer hatte Annabelle ihn kühl behandelt, war jedem Versuch einer Konversation aus dem Weg gegangen und hatte jede Aufforderung zum Tanz abgelehnt. Er schien sich stets zu amüsieren, dass sie ihn verschmähte, und starrte sie mit einem so offen zur Schau gestellten Wohlwollen an, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten. Sie hatte immer gehofft, dass er eines Tages das Interesse an ihr verlieren würde, aber bislang blieb er weiter lästig und hartnäckig.
    Annabelle ahnte, wie erleichtert die anderen Mauerblümchen waren, als er sie ignorierte und seine ganze Aufmerksamkeit ihr schenkte. „Miss Peyton“, begann er. Seinen schwarzen Augen schien nichts zu entgehen, weder die sorgfältig geflickten Ärmel ihres Abendkleides noch die Tatsache, dass sie unter einem Rosenzweig eine ausgefranste Ecke an ihrem Oberteil versteckt hatte, oder die falschen Perlen in den Ohrringen. Mit eisiger Ablehnung blickte Annabelle ihn an. Die Atmosphäre zwischen ihnen schien aufgeladen. Annabelle fühlte sich zugleich abgestoßen und angezogen, es war wie eine elementare Herausforderung, seine Nähe machte sie regelrecht nervös.
    „Guten Abend, Mr. Hunt.“
    „Wollen Sie mir einen Tanz schenken?“, fragte er ohne Einleitung.
    „Nein, danke.“
    „Weshalb denn nicht?“
    „Meine Füße schmerzen.“
    Amüsiert zog er eine Braue hoch. „Wovon denn? Sie haben doch den ganzen
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