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GEHEIMNISSE DER NACHT

GEHEIMNISSE DER NACHT

Titel: GEHEIMNISSE DER NACHT
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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hatte sie über den Verfasser der Tagebücher nachgedacht. Dante. Hatte er hier gelebt, dieser Mann, der ein Zigeunerjunge gewesen war, verzaubert von seiner ausgestoßenen Tante? War er vielleicht in genau diesem Zimmer gewesen, vor dem Feuer auf und ab gegangen, und hatte seine Schreibfeder auf einem polierten antiken Schreibtisch nicht angerührt? Hatte er seine Muse so ungeduldig umworben wie sie selbst, und war er ebenso frustriert, als die Wörter nicht kommen wollten?
    Wie von einer unsichtbaren Hand gezogen stand sie auf und verließ das Arbeitszimmer. Sie ging durch die gespenstische Eingangshalle und die breite Treppe hinauf. Danach durchquerte sie einen Flur und ignorierte die Türen auf beiden Seiten. Sie hatte die meisten Räume hier oben noch nicht einmal betreten. Es waren einfach zu viele.
    Aber ihr Ziel lag in keinem von ihnen. Ihr Ziel lag dahinter, die Hintertreppe hinauf, die auf den Dachboden führte, wo Spinnweben Hof hielten und der Staub regierte. Sie kniete sich hin, wie sie es schon zuvor getan hatte, und fischte ein Streichholzbriefchen aus ihrer Jeanstasche. Damit zündete sie die Kerzen in dem prunkvollen Tafelleuchter an, der unten wie für sie bereitgestellt dastand. Als ihr weiches gelbes Licht sich ausbreitete, öffnete sie liebevoll den Deckel der handgearbeiteten Truhe und nahm den ersten Band heraus, strich darüber und öffnete ihn vorsichtig, um die mürben Seiten nicht zu beschädigen. Sie blätterte zu der Stelle, an der sie aufgehört hatte, und begann zu lesen. Und wieder verlor sie sich selbst in den Worten.

Keith
    2. KAPITEL
    Es dauerte dreizehn Jahre, bis ich Sarafina wieder sah. Dreizehn ganze Jahre, in denen ich viele Dinge lernte. Egal wohin wir gingen, man würde uns schließlich vertreiben. Egal wie ehrlich wir sein mochten, wir wurden von Fremden als Diebe beschimpft, die nichts über uns wussten. Also lernte ich auch, mir zu nehmen, was ich wollte, und sie alle zur Hölle zu wünschen. Meine Schlussfolgerung war, dass ich die Früchte der Verbrechen, die man mir zuschrieb, genauso gut genießen konnte. Wenn man mich erwischte, bezahlte ich für diese Verbrechen, egal ob ich sie begangen hatte oder nicht. Ich wollte lieber für mein eigenes Vergehen hängen, als für das irgendeines blassen Welpen, der Ehrlichkeit vortäuschte und dem man ohne weitere Fragen glaubte, solange es einen Zigeuner in der Nähe gab, dem man die Schuld zuschieben konnte.
    Doch so viel ich auch lernte, das entscheidende Wissen blieb mir vorenthalten, obwohl ich es ohne Unterlass suchte. Es gelang mir nicht, Sarafinas Geheimnis zu ergründen. Wer sie wirklich war, welche verwandtschaftlichen Beziehungen uns verbanden, warum man sie von unserer Truppe ausgeschlossen hatte.
    Nicht vor jener Nacht, in der mein Leben fast ein Ende fand – in der es praktisch gesehen tatsächlich endete. Es endete – und ein neues begann. Es war später Herbst, und wir schrieben das Jahr 1848.
    Damals war ich ein junger Mann. Hitzköpfig und unbesonnen. Meine Familie war gerade dabei, zusammenzupacken und wieder einmal weiterzuziehen. Nicht, weil wir des Ortes überdrüssig geworden waren, sondern weil die Anwohner uns beschuldigten, ihnen Vieh zu stehlen, und wir wussten, die Gesetzeshüter würden bald hinter uns her sein.
    Ehe wir endgültig aufbrachen, hatte ich beschlossen, unseren Anklägern noch ein wenig Fleisch zu entwenden. Tatsächlich sollte es etwas mehr sein.
    Es war Neumond; nur eine schmale silberne Sichel leuchtete am Himmel, als ich mich auf den Hof des Bauern schlich. Es war mir egal, was ich in dieser Nacht stehlen würde, solange ich nur irgendetwas mitnahm. Es war Vergeltung. Ein Ausgleich für die üble Nachrede, die mir und den meinen angetan worden war.
    Das erste Tier, dem ich begegnete, war ein bärtiger Ziegenbock. Ich erinnere mich gut – beige und weiß und struppig. Die Hörner bogen sich von seinem Kopf. Die Hufe hätten dringend beschnitten werden müssen, wie bei einem alten Mann mit zu langen Fingernägeln.
    Ich schlang ein Seil um seinen Hals und führte ihn von dem Schuppen fort, in dem er angebunden gewesen war, über den zerfurchten Boden, wo tagsüber die Hennen pickten und scharrten. Jetzt schliefen sie auf der obersten Stange des Zaunes und in den wirren jungen Trieben, die hier und da aus dem Boden schossen. Der Bock kam ohne Aufheben mit mir, bis ich durch das Gatter hindurchgegangen war und begann, mich vom Hof zu entfernen. Da blieb er plötzlich stehen, grub seine
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