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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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Morgen in der Dämmerung erwachte Sofia von einem mächtigen Gegacker vor dem Haus. Dann stand Hermengarda draußen und feilschte mit den Händlern. Sofia teilte das Bett mit einem Mädchen, das Louisa hieß. In Hermengardas Haus gab es kein Badezimmer.
    Trotzdem fühlte Sofia sich dort heimischer als bei Doktor Raul. Sie half beim Waschen und Putzen und passte auf die jüngsten Kinder auf. Dabei vergaß sie nicht, an ihre Zukunft zu denken. Sie wohnte nur vorübergehend bei Hermengarda, das durfte sie nicht vergessen. Im tiefsten Innern hoffte sie, dass Lydia bald vor Hermengardas Haus stehen und ihr sagen würde, dass Isaias fort war und sie wieder nach Hause kommen könnte. Aber sie merkte auch, dass sie wütend war auf Lydia. Es war, als ob Lydia sich gegen sie entschieden und einem Mann den Vorzug gegeben hatte, der bösartig war und ihr nie helfen würde. Und sie machte sich Sorgen wegen Alfrede, der ganz allein war.
    Wenn ich nur Maria hätte, dachte sie, mit der könnte ich reden. Jetzt habe ich nur das Feuer in Hermengardas Herd. Muazena muss mir helfen.
    An einem der ersten Tage fragte Hermengarda, ob Sofia irgendetwas besonders gern tat.
    »Nähen«, antwortete Sofia sofort.
    Hermengarda nickte.
    »Das ist gut«, antwortete sie. »Ich will sehen, was ich machen kann.«
    Am nächsten Tag weckte Hermengarda Sofia früh am Morgen, bevor noch die Männer mit den gackernden Hühnern gekommen waren.
    »Zieh dich an«, sagte sie. »Beeil dich. Eine gute Freundin von mir hat ein Nähatelier. Sie hat mir versprochen, dass du zeigen darfst, was du kannst. Wenn sie feststellt, du bist tüchtig, dann darfst du bei ihr arbeiten. Du bekommst nichts bezahlt. Aber du wirst etwas lernen. Das ist wichtiger als Geld.«
    Sofia befestigte die Beine und zog sich an, so schnell sie konnte. Hermengarda, die immer viel zu tun hatte, wartete schon ungeduldig auf der Straße. Als Sofia fertig war, machten sie sich eilig auf den Weg. Hermengarda ging so schnell, dass Sofia mit ihren Krücken fast laufen musste. Aber es war nicht weit. Bald blieb Hermengarda vor einem kleinen Haus stehen, das versteckt in einem verwilderten Garten lag. Das Haus war verfallen, die Dachrinnen waren abgefallen und die Steintreppe hatte Risse. Die Tür stand offen und Hermengarda rief nach einer Fatima. Eine Frau, genauso schwarz und genauso dick wie Hermengarda, kam hinaus auf die Treppe. »Hier bringe ich dir Sofia«, sagte Hermengarda. »Ich hab keine Zeit zu bleiben.«
    Dann wandte sie sich an Sofia. »Du findest doch heute Nachmittag allein nach Hause, oder?« Sofia glaubte, sie würde es schaffen. Hermengarda verschwand und Sofia war allein mit Fatima, die auf der Treppe stand und ihr durch dicke Brillengläser entgegenblinzelte.
    »Komm näher, damit ich dich sehen kann«, sagte sie. Sofia hüpfte vorsichtig auf ihren Krücken näher zu Fatima heran. Als sie die Treppe erreichte, drehte Fatima sich um und machte ihr gleichzeitig ein Zeichen, ihr ins Haus zu folgen. Mit Hilfe der Krücken arbeitete Sofia sich die Treppe hinauf.
    Als sie in das Haus kam, war es, als beträte sie eine ganz andere Welt. Das Haus war voller Vögel. Überall hingen Käfige, große, kleine, viereckige, runde; Käfige aus Holz, aus Gras, aus Stoff. Überall zwitscherten, riefen und schrien farbenprächtige Vögel. Sofia blieb stumm auf der Schwelle stehen. Es gab auch Vögel, die frei im Zimmer herumflogen. Eine silberglänzende Taube setzte sich auf ihre Schulter und begann in ihrem Haar zu zupfen. Fatima war in einem angrenzenden Zimmer verschwunden, aber sie kam zurück um zu sehen, wo Sofia blieb. »Du hast doch hoffentlich keine Angst vor Vögeln?«, fragte sie. »Dann kannst du nicht bei mir arbeiten.« Sofia schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Angst vor Vögeln. Sie war nur so überrascht ein Haus zu betreten, in dem mehr Vögel als Menschen wohnten. »Ich habe immer davon geträumt, eines Morgens mit Flügeln auf dem Rücken zu erwachen«, sagte Fatima. »Das wird wohl nie geschehen. Deswegen umgebe ich mich stattdessen mit Vögeln. Tausend Flügel, die flattern und schwingen und sich gegen graue und blaue Himmel erheben.« Sie gab Sofia ein Zeichen, ihr ins nächste Zimmer zu folgen. Es war groß und rund und hatte hohe Fenster. Noch nie war Sofia in einem so großen und hellen Raum gewesen. Mitten im Zimmer stand ein großer Nähtisch mit mehreren Nähmaschinen. An den Wänden waren Regale, in denen verschiedenfarbene Stoffe lagen. Und überall im Raum verteilt
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