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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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den Pumpen in den Dörfern, an denen sie vorbeikam.
    Am zweiten Tag stellte sie fest, dass ihr linkes Bein einen Riss hatte. Da bekam sie Angst. Sie wollte nicht ohne ihre Beine zu Doktor Raul kommen. Sie versuchte ihr Gewicht auf das rechte Bein zu verlagern. Davon bekam sie Krämpfe und musste immer öfter stehen bleiben.
    An einem späten Abend erreichte sie die Stadt. Sie kroch unter einen verrosteten, kaputten Laster, um zu schlafen und die Dämmerung abzuwarten. Und dann hatte sie solchen Hunger, dass sie Magenschmerzen bekam. In der Nähe raschelten große Ratten. Hin und wieder schlug sie mit ihren Krücken nach ihnen. Noch nie hatte sie so eine lange Nacht erlebt. Es war, als ob die Sonne beschlossen hatte, sich nie mehr über den Horizont zu erheben. Wieder dachte sie daran, was Muazena als den größten aller Schrecken beschrieben hatte. Allein übrig zu bleiben. Der letzte Mensch auf der Erde zu sein. War sie das? Sofia Alface unter einem verrosteten Laster am Rand einer großen Stadt, irgendwo in Afrika?
    Schließlich kam die Dämmerung. Sie kroch unter dem Laster hervor und setzte ihren Weg in die Stadt fort.
    Nach vielen Stunden fand sie das Krankenhaus. Sie fand auch Doktor Rauls Auto auf dem Parkplatz. Die Stoßstange war immer noch mit einem Stück Draht befestigt. Sie setzte sich neben dem Auto auf die Erde und wartete. Dort fand Doktor Raul sie, als er nach einem langen Tag im Krankenhaus in der Dämmerung auf dem Heimweg war.
    10.
    Doktor Raul hatte eine Frau, die hieß Dolores. Obwohl er sie liebte und sie vier Kinder miteinander hatten, fürchtete er sich manchmal auch vor ihr. Sie konnte sehr streng sein. Er wusste, dass sie sich oft über seine Zerstreutheit ärgerte. Er hatte den Verdacht, dass sie sich auch manchmal über seine Meinung ärgerte, sie könnten sich kein neues Auto leisten.
    An diesem Tag machte er sich Sorgen, was sie sagen würde, wenn er Sofia mit nach Hause brachte. Sie hatte neben dem Auto geschlafen, als er kam. Zuerst hatte er geglaubt, es sei eins der vielen Kinder, die auf der Straße lebten und die sein Auto häufig mit einem schmutzigen Lappen wuschen in der Hoffnung, Doktor Raul könnte sich erweichen lassen und einen Geldschein herausrücken. Er grub schon mit einer Hand in einer Tasche, als er Sofia erkannte, seine ehemalige Patientin, die dort neben dem Hinterrad saß. Sofia, die er kürzlich in ihr Dorf außerhalb von Boane gebracht hatte. Er blieb mit gerunzelter Stirn stehen, da er verstand, dass etwas geschehen war. Im selben Augenblick war es, als ob sie ihn gehört hätte oder als ob sie ahnte, dass er da war, und sie schlug die Augen auf. Doktor Raul tat, was er so viele Male getan hatte, als sie noch in ihrem Krankenhausbett lag. Er hockte sich vor sie hin. »Was ist passiert?«, fragte er. »Ich konnte nicht zu Hause bleiben«, antwortete Sofia.
    Doktor Raul ließ ihre Antwort auf sich wirken. Warum hatte sie nicht zu Hause bleiben können? Das klang merkwürdig in seinen Ohren. Die afrikanische Familie verstieß nie jemanden, wie arm die Familie auch sein mochte oder wie entfernt verwandt die Person auch sein mochte, die ihren Platz am Feuer verlangte.
    Schließlich tat er das Einzige, was ihm zu tun blieb. Er setzte sich neben Sofia und lehnte den Rücken gegen das Auto. »Erzähle«, sagte er. »Erzähl mir, was passiert ist.« Sofias Worte kamen abgehackt, als ob sie sie unter großen Schmerzen hervorpresste.
    Sie erzählte von Isaias, wie er aus der Dunkelheit gekommen war und wie er ihr eines Tages den Besen aus der Hand gerissen hatte, sodass sie umgefallen war. Doktor Raul hörte zu und wusste, dass vermutlich stimmte, was sie erzählte. Natürlich konnte sie übertreiben, das taten Kinder oft. Nicht zuletzt arme Kinder, deren einziger Überfluss darin bestand, dass sie ihr Elend übertreiben konnten. Es war auch nicht das erste Mal, dass er eine Geschichte wie Sofias hörte. Sie teilte ihr Erlebnis mit unzähligen anderen Kindern. Er dachte, das Schlimmste an der Armut war, dass sie die Menschen zwang etwas zu tun, was sie nicht wollten. Lydia brauchte wohl einen Mann, der ihr half.
    Aber wenn der Mann da war, musste sie gehorchen. Und oft wollten die Männer nichts von den früheren Kindern der Frau wissen. Und das musste erst recht für ein Mädchen wie Sofia gelten, einem Mädchen, dem die Beine abgerissen worden waren, das sich nur auf Krücken vorwärts bewegen konnte. Er lauschte ihren Worten und begriff allmählich, was passiert
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