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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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standen Puppen, so groß wie Menschen. Die Puppen, die Sofia mit starren Augen anschauten, waren mit Stoffen und halb fertigen Kleidern behängt. Fatima lachte.
    »Wenn du genug geguckt hast, kannst du dich auf den Hocker da setzen«, sagte sie. »Und dann fangen wir an zu arbeiten.«
    Sofia war es, als ob sie in Fatima eine Schwester von Muazena getroffen hätte. Obwohl sie jünger und dicker als Muazena war, schien sie doch die gleichen geheimnisvollen Kräfte zu haben, wie Muazena sie besessen hatte. Sie konnte Geschichten erzählen, sie konnte erklären, und die ganze Zeit nähte sie unablässig, auf die gleiche Weise, wie Muazena unablässig in der trockenen Erde gehackt hatte, um Pflanzen zu setzen oder Unkraut zu jäten.
    Während Sofia bei Fatima zwischen den Vögeln saß und Stoffe in Kleider verwandelt wurden, war ihr, als ob die Zeit stillstände.
    Fatima war eine strenge Lehrerin. Sie wurde böse, wenn Sofia schlampig arbeitete oder nicht das tat, was Fatima ihr gesagt hatte. Aber Sofia fiel auf, dass sie niemals ihre Stimme erhob oder ohne Anlass seufzte oder stöhnte.
    Außerdem lobte sie Sofia, wenn sie etwas gut gemacht hatte.
    Vor allen Dingen lehrte sie Sofia das Geheimnis der Nähnadel.
    Eines Abends arbeiteten sie weiter, obwohl es schon dunkel geworden war. Sie nähten an einem Brautkleid aus weißer Seide, das bis zum nächsten Tag fertig werden musste. Fatima hatte gesagt, Sofia könne bei ihr schlafen, wenn sie fertig waren. Sie hatte einen Jungen angestellt, der alle Vogelkäfige sauber machte. Ihn schickte sie mit der Nachricht zu Hermengarda, dass Sofia erst am nächsten Tag nach Hause kommen würde. Es wurde spät. Der Abend ging in die Nacht über, ehe das weiße Kleid endlich fertig war. Fatima nickte zufrieden und legte einen Arm um Sofias Schultern. »Schöner wird es nun nicht mehr«, sagte sie. Dann tranken sie draußen auf der Veranda Tee.
    Die Vögel in ihren Käfigen waren still, durch das Schweigen strich ein schwacher Wind.
    Fatima und Sofia saßen nebeneinander auf einer Bank, die schaukeln konnte.
    Sie balancierten die ungleichen gesprungenen Tassen in ihren Händen.
    «Mir hat ein alter Mann das Nähen beigebracht«, sagte Fatima plötzlich. Ihre Stimme war leise, als ob sie die Stille um sie herum nicht stören wollte.
    »Er hat mir beigebracht, dass sich alles im Leben um Nähte dreht«, fuhr sie fort. »Es sind Nähte, die alles miteinander verbinden. Zwischen Menschen gibt es unsichtbare Nähte. Unsere Erinnerung näht unsere Träume mit den Gedanken fest, die wir denken, wenn wir wach sind. Wenn man klug werden und lernen will Menschen zu mögen, muss man nähen. Du kannst deine Sehnsucht und deine Trauer auf ein Stück Stoff sticken und du merkst, alles wird leichter.«
    Das sagte Fatima in jener Nacht zu Sofia. Und Sofia vergaß es nie. Schon am nächsten Tag begann sie zwei übrig gebliebene Stückchen Stoff zusammenzunähen. Das eine war Maria, das andere sie selbst. Sie stickte ein Muster aus verschiedenen Fäden, bis es den Namen Lydia bildete. Das bedeutete, dass sie Lydia vermisste. Sie nähte einen Weg hinein. Das bedeutete, dass sie jeden Tag darauf wartete, Lydia werde kommen und ihr sagen, Isaias sei weg und sie könnte nach Hause kommen.
    Von diesem Abend an wusste sie, was sie in ihrem Leben machen wollte: nähen. Und als Fatima sie immer öfter lobte und ihr immer schwerere Aufgaben übertrug, begann sie daran zu glauben, dass sie die Arbeit schaffen würde.
    Die Zeit verging. Lydia kam nicht. Jeden Abend hoffte Sofia, Doktor Raul würde an die Tür von Hermengardas Haus klopfen um zu sagen, dass Lydia im Krankenhaus nach ihr gesucht hatte. Aber er hatte nie etwas von Lydia zu erzählen. Sie kam nicht. Doktor Raul merkte, wie traurig Sofia war, und er sagte ihr, wie sehr er sich darüber freute, dass sie so gut nähen konnte. Sofia versuchte, nicht an Lydia, Alfredo und Faustino zu denken, obwohl es ihr schwer fiel. Sie hatte die beiden Stückchen Stoff, die Maria und sie selbst darstellten, mit nach Hause genommen. Wenn sie nicht einschlafen konnte, stand sie leise auf und nähte weiter im Schein der Straßenlaterne. Das half ein wenig. Alles wurde ein bisschen leichter. Aber die Sehnsucht war immer da.
    Warum kam Lydia nicht? Hatte sie vergessen, dass sie eine Tochter hatte, die Sofia hieß?
    Die Regenzeit zog über die Stadt. Tage- und wochenlang regnete es ununterbrochen. Die Stadt war so voll Wasser, dass die Straßen kaum noch zu erkennen waren. Aber
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