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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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die ihr in Fleisch und Blut übergegangen ist. Sie zündet das diya mit einem Streichholz an, hält das Ende des Weihrauchstäbchens in die Flamme, bis es aufglimmt, und schwenkt es dann etwas hin und her, bis die Spitze matt orangerot glüht. Als sie mit den Vorbereitungen fertig ist, setzt sie sich nach hinten auf die Fersen und atmet langsam und tief aus, ein Atemzug, von dem sie spürt, dass sie ihn seit vielen Jahren angehalten hat.
    Sie entspannt die Muskeln ihres Körpers und starrt in den hypnotischen Schein der Flamme, bis ihr Atem einen gleichmäßigen Rhythmus annimmt. Der vertraute Geruch nach brennendem ghee und Weihrauch dringt ihr in die Nase. Sie sieht am fernen Horizont die Sonne durchbrechen und hört das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen über ihr. Sie schließt die Augen und nimmt die Perlen, spürt die Furchen jeder Einzelnen mit den Fingern, während sie leise chantet. Sie ist angefüllt mit etwas soGroßem, dass sie das Gefühl hat, es wird ihre Lunge zum Bersten bringen. Doch gleichzeitig fühlt sie sich hohl. Was ihr Herz und ihren Verstand ausfüllt, ist ein überwältigendes Gefühl der Leere, eine tiefe Trauer um alles, was sie verloren hat.
    Erst gestern hat Kavita die Asche verstreut, doch es ist fast einen Monat her, seit sie ihre Mutter verloren hat. Mit der Trauer hat sie gerechnet, nicht jedoch mit der Erkenntnis, wie sehr der Tod ihrer Mutter sie aus der Bahn wirft. Sie hat dieses Dorf vor Jahren verlassen, das Haus ihrer Eltern noch früher. Sie lebt schon sehr lange als Erwachsene, dennoch fühlt sie sich durch den Verlust ihrer Mutter wieder wie ein Kind. Die Erinnerungen, die Kavita jetzt durch den Kopf ziehen, liegen so weit zurück, dass sie sie zeitlich nicht einordnen kann: die kühle Hand der Mutter auf ihrer fiebrigen Stirn, der Jasminduft, der in ihr Haar eingewoben ist.
    Perlen zwischen ihren Fingern
Eine kühle Hand auf ihrer Stirn
Der Duft von Weihrauch und Jasmin
    Jetzt verliert sie auch ihren Vater. Er entgleitet ihr, das spürt sie. An manchen Tagen ist ihr sein Geist ganz nah; an vielen anderen aber kommt er ihr weit weg vor. Als sie ihn vor drei Tagen Löffel für Löffel mit Milchreis fütterte, nannte er sie »Lalita«. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie diesen Namen hörte, einen Namen, mit dem sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gerufen worden ist, einen Namen, den nur ihr Vater für sie benutzte. Sie weint jetzt wieder, erinnert sich, wie der Name auf seinen Lippen klang.

    Lalita
Perlen zwischen ihren Fingern
Eine kühle Hand auf ihrer Stirn
Weihrauch und Jasmin
    War es die richtige Entscheidung gewesen, von hier fortzugehen, ihre beiden Familien vor so vielen Jahren zu verlassen? Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie geblieben wären. Sie haben es für Vijay getan, aber am Ende ist er ihnen abhandengekommen. Und wie lange ist es her, seit sie Vijay verloren hat? Was ist aus dem kleinen Jungen geworden, der mit seinen Cousins im Sand gespielt hat? Wo ist seine Unschuld unterwegs verloren gegangen? Was war mit dem Kind geschehen, dessen Name Sieg bedeutet?
    Sieg
Perlen zwischen ihren Fingern
Lalita
Eine kühle Hand auf ihrer Stirn
Weihrauch und Jasmin
    Über zwanzig Jahre sind vergangen, seit sie ihre zwei Töchter hier verloren hat, die erste, der weder ein Name noch ein Leben gegeben wurde, und ihre kostbare Usha. Mit den Gedanken an Usha stellt sich erneut der körperliche Schmerz in ihrem Herzen ein. Kein Tag ist seit Ushas Geburt vergangen, an dem Kavita nicht an sie gedacht hat, nicht um sie getrauert hat und nicht gebetet hat, die hohlen Gefühle des Kummers mögen vergehen. Aber Gott hat sie nicht erhört. Oder aber er hat ihr noch nicht vergeben. Denn der Schmerz in ihrem Herzen dauert an.

    Usha
Perlen zwischen ihren Fingern
Sieg
Eine kühle Hand auf ihrer Stirn
Lalita
Weihrauch und Jasmin
    Zwanzig Jahre lebt sie nun schon weit weg von ihrer Familie. Sie hat erst ihre Töchter verloren, dann ihren Sohn und jetzt ihre Eltern. Nur eine Beziehung ist trotz vieler schrecklicher Erschwernisse reifer und stärker geworden, und das ist ihre Ehe mit Jasu. Ja, er hat im Laufe der Jahre Fehler gemacht und schlechte Entscheidungen getroffen, aber ihr Mann hat sich zu einem guten Menschen entwickelt. Ihre gemeinsame Reise war voller Mühsal und Kummer, und dennoch haben sie gelernt, die Gefühle von Reue und Verbitterung zu begraben, die im Laufe ihres Lebens immer stärker hätten werden können. Sie sind gemeinsam
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