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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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kurz bevor ich hier angekommen bin«, erklärt Asha. »Der Koch ist Italiener, und von der Wohnung ist es nur ein Katzensprung bis hierher, also kann ich jederzeit herkommen, wenn ich mal das indische Essen leid bin.« Sie bestellen Salate und Pasta und machen sich heißhungrig über den Brotkorb her.
    »Hat Dad dir die große Neuigkeit schon erzählt?«, fragt Asha.
    »Ich glaube nicht.« Somer spürt sofort, wie sich ihr der Magen zusammenzieht, während sie die Möglichkeiten im Kopf durchgeht. »Was für eine Neuigkeit?«
    »Ich habe da jemanden kennengelernt. Sanjay«, sagt Asha beschwingt. »Er ist intelligent und witzig und sieht toll aus. Und er hat tiefbraune Augen, weißt du?«
    »Ja, das kenne ich«, sagt Somer kopfschüttelnd. »Tödlich.« Sie lachen zusammen, während sie ihr Essen genießen, und erzählen sich, was sie während der Zeit ihrer Trennung alles erlebt haben.
    Als das Tiramisu kommt, bittet Asha um Verzeihung. »Mom«, sagt sie, »es tut mir leid, dass ich … Es tut mir leid, was alles vor meiner Abreise passiert ist. Ich weiß, es war nicht leicht für dich –«
    »Schätzchen«, fällt Somer ihr ins Wort, »mir tut es auch leid. Ich sehe doch, dass dieses Jahr dir gutgetan hat. Ich bin wahnsinnig stolz darauf, was du hier erreicht hast. Duhast so viel gelernt, das ist offensichtlich, bist so schnell erwachsen geworden.«
    Asha nickt. »Weißt du«, sagt sie leise, »ich habe auf jeden Fall gelernt, dass die Welt komplizierter ist, als es den Anschein hat. Ich bin echt froh, dass ich hier bin, meine Familie kennengelernt habe, erfahren habe, wo ich herkomme. Indien ist ein faszinierendes Land. Einiges hier liebe ich, gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein. Aber dann gibt es auch anderes, das mich abschreckt, verstehst du?« Sie blickt Somer an. »Findest du das seltsam?«
    »Nein, Liebes.« Sie berührt Ashas Wange mit dem Handrücken. »Ich glaube, ich verstehe dich«, sagt Somer, und das meint sie zutiefst ehrlich. Dieses Land hat ihr Krishnan und Asha geschenkt, die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Aber als sie versucht hat, gegen die Macht seines Einflusses anzukämpfen, war es zugleich die Ursache ihrer größten Krise.

57
Morgengebete
    Dahanu, Indien – 2005
Kavita

    Mit jeder einzelnen der groben Steinstufen, die Kavita hinaufsteigt, stürmen die Erinnerungen auf sie ein. Obwohl es über zwanzig Jahre her ist, dass sie mit Jasu in diesem Haus gewohnt hat, erinnern sich ihre Fußsohlen an alles, als wäre kein bisschen Zeit vergangen. Bei keinem der Besuche, die sie Dahanu, ja sogar diesem Haus, wo Jasus Eltern noch wohnen, in den letzten zwei Jahrzehnten abgestattet hat, hat sie sich so gefühlt wie jetzt. Vielleicht liegt es an der Tageszeit, an dieser friedlichen Stunde, ehe das Dorf erwacht und nach und nach die Geräusche menschlicher Geschäftigkeit aus allen Richtungen zu hören sind. Vielleicht liegt es an der Jahreszeit, den letzten Frühlingstagen, wenn die chickoo – Bäume in voller Blüte stehen, die Luft mit ihrem süßen Duft erfüllen. Vielleicht liegt es daran, dass sie allein gekommen ist: nicht um ihre Schwiegereltern zu besuchen, nicht um Vijay das Zuhause seiner Kindheit zu zeigen, sondern ganz allein. Oder vielleicht liegt es an ihrer Gemütsverfassung, schließlich hat sie sich erst gestern, auf dem Meer, für immer von ihrer Mutter verabschiedet.
    Kavita hat das Haus ihres Vater ganz früh heute Morgen verlassen, noch bevor die Pflegerin wach wurde. Sie hat sich rasch gewaschen und ein paar Dinge aus dem mandir eingepackt – ein diya , ein Weihrauchstäbchen, eine Schnurmit Sandelholzperlen, die Messingstatuette des Flöte spielenden Krishna. Eigentlich hatte sie nur vor das Haus treten wollen, um ihre puja zu verrichten, weil ihr für die Morgengebete die frische Luft bei Tagesanbruch am liebsten ist. Doch sobald sie draußen stand, mit den vertrauten Dingen in den Händen, spürte Kavita den unwiderstehlichen Drang weiterzugehen, bis hierher zu ihrem alten Haus. Ihre Schwiegereltern werden noch mindestens eine Stunde schlafen und nicht mal merken, dass sie da war.
    Als sie oben angekommen ist, breitet Kavita die zerschlissene Stoffmatte an derselben Stelle aus wie früher. Sie kniet sich darauf, mit dem Blick nach Osten. Nacheinander verteilt sie vor sich die Sachen, die sie mitgebracht hat: Krishna in der Mitte, diya rechts, Weihrauchstäbchen links, Perlen direkt vor ihr. Jede Bewegung folgt automatisch der vorangegangenen, eine rituelle Abfolge,
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