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Geheimakte: Das Vermächtnis von Nummer Sechs - das Erbe von Lorien

Geheimakte: Das Vermächtnis von Nummer Sechs - das Erbe von Lorien

Titel: Geheimakte: Das Vermächtnis von Nummer Sechs - das Erbe von Lorien
Autoren: Aufbau
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traurigen Augen sieht sie mich an. Ich kann ihr ansehen, dass ihr das Bett ziemlich egal ist. Wahrscheinlich ist ihr das Meiste zurzeit ziemlich egal. Angesichts der Tatsache, dass ihre Eltern gestorben sind, kann ich es ihr nicht verdenken. Ich würde ihr gern sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen |99| braucht, dass sie — im Gegensatz zu uns >Lebenslänglichen< — nach einem oder spätestens zwei Monaten wieder hier rauskommen wird. Aber welch ein Trost könnte das im Augenblick für sie sein?
    Ich beuge mich über das Fußende ihres Bettes und ziehe so lange am Bettlaken herum, bis es so liegt, dass ich es an den Seiten unterhalb der Matratze feststopfen kann. Dann ziehe ich die Bettdecke darüber.
    »Kannst du da mal an der Seite anfassen?«, bitte ich sie und deute auf die linke Bettseite, während ich mich rechts neben das Bett stelle. Zusammen streichen wir alles glatt, bis ihr Bett genauso ordentlich aussieht wie meins.
    »Perfekt«, sage ich.
    »Danke«, erwidert sie mit sanfter, schüchterner Stimme. Ich sehe ich in ihre großen braunen Augen und muss feststellen, dass ich sie wirklich mag und mich ein bisschen um sie kümmern möchte.
    »Das mit deinen Eltern tut mir sehr leid«, sage ich.
    Ella weicht meinem Blick aus. Wahrscheinlich bin ich ihr gerade zu nahe gekommen. Doch dann antwortet sie mit einem schwachen Lächeln: »Danke. Ich vermisse sie sehr.«
    »Ich bin sicher, dass sie dich auch vermissen.«
    Zusammen gehen wir aus dem Zimmer. Mit fällt auf, dass sie auf den Fußballen geht, so als wolle sie keinerlei Geräusche machen.
    Am Waschbecken fasst Ella ihre Zahnbürste so nahe an den Borsten an, dass sie diese fast mit ihren kleinen Fingern berührt. Die Zahnbürste wirkt dadurch viel größer, als sie ist. Als ich bemerke, dass sie mich im Spiegel beobachtet, lächle ich ihr zu. Sie erwidert mein Lächeln und entblößt dabei zwei Reihen winziger Zähne. Zahnpasta strömt aus ihrem Mund, läuft ihr über den Arm und tropft von ihrem Ellbogen herunter. Ich beobachte das S-förmige Rinnsal aus Zahnpasta. Es erinnert mich an irgendetwas und ich lasse meine Gedanken schweifen.
    Ein heißer Junitag. Wolken segeln über den blauen Himmel. |100| Kühle Wasserläufe plätschern im Sonnenlicht. Die frische Luft riecht nach Pinien. Ich atme sie ein und lasse die Widrigkeiten aus Santa Teresa im Nichts verschwinden.
    Obwohl mein zweites Erbe sich anscheinend bereits kurz nach meinem ersten gezeigt hatte, war es mir erst ein ganzes Jahr danach bewusst geworden. Ich hatte es rein zufällig bemerkt und frage mich jetzt, ob ich noch über ein weiteres Erbe verfüge, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
    Jedes Jahr, wenn die Sommerferien beginnen, organisieren die Schwestern einen viertägigen Ausflug in ein nahe gelegenes Ferienlager in den Bergen, um diejenigen zu belohnen, die sich ihrer Einschätzung nach brav verhalten haben. Aus demselben Grund, aus dem ich auch die in entgegengesetzter Richtung liegende Höhle mag, gefallen mir diese Ausflüge: Sie sind eine Flucht— eine seltene Gelegenheit, über einen Zeitraum von vier Tagen in einem großen Bergsee schwimmen, klettern, unter freiem Himmel schlafen zu können und im Gegensatz zu den muffigen Korridoren von Santa Teresa endlich einmal frische Luft zu atmen. Kurz gesagt eine Möglichkeit, sich unserem Alter entsprechend zu verhalten. Ich habe sogar schon ein paar der Schwestern lachen und scherzen hören, als sie sich unbeobachtet glaubten.
    Mitten im See gibt es ein Schwimmdeck. Ich bin eine furchtbar schlechte Schwimmerin und viele Sommer saß ich einfach nur am Ufer und beobachtete, wie die anderen lachten, herumalberten und Kopfsprünge vom Deck in das Wasser machten. Ich übte einige Sommer lang allein in flachem Wasser und als ich dreizehn war, hatte ich mir schließlich ein alles andere als perfektes, hundeartiges Paddeln antrainiert, das meinen Kopf über Wasser hielt. Mit diesem Schwimmstil erreichte ich das Deck. Das war alles, was ich wollte.
    Einmal auf dem Deck angekommen besteht das Spiel darin, sich gegenseitig hinunterzuschubsen. Erst bilden sich Mannschaften, aber wenn von ihnen schließlich nur noch ein Mädchen übrig ist, sind alle auf sich selbst gestellt. Da La Gorda |101| das kräftigste und größte Mädchen in Santa Teresa ist, hatte ich immer angenommen, dass sie spielend den Sieg davontragen würde. Allerdings ist das nur selten der Fall. Häufig wird sie von kleineren und beweglicheren Mädchen ausgetrickst
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