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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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zurückgegeben und ist aus der finnischen Armee entlassen worden. Jetzt ist er wie Elina kurz zuvor in Gedanken versunken und zuckt deshalb zusammen, als sie ihn anspricht. »Sicher, dann gehe ich mal«, sagt er, nimmt Elina die leere Thermoskanne aus der Hand und macht auf dem Absatz kehrt, um sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Dann bleibt er jedoch stehen, dreht den Kopf, nickt dem hageren Jungen im Rollstuhl und einer kleinen, braunhaarigen, jungen Frau zu, die dicht daneben steht, und fragt: »Kari und Lahja, wollt ihr auch etwas?« Der Mann im Rollstuhl schüttelt den Kopf, sein Blick ist auf die Bühne gerichtet, wo sich ein Saxofonist mit einem schwarzen, breitkrempigen Hut in ein Solo wirft, das Mi Viejo Corazón in eine laue und warme Abendbrise verwandelt. Sulo Manner sieht fragend die kleine Lahja mit ihren kastanienfarbenen Haaren an. »Nein, danke, ich brauche nichts«, sagt sie. »Soll ich Limonade nehmen, wenn sie welche haben?«, fragt Sulo noch Elina Savander. »Das kannst du vergessen«, antwortet sie. »Die haben bestimmt noch das Kriegssortiment.« Sulo lächelt sie an, aber es ist ein etwas bemühtes Lächeln, und er spürt selbst, dass es zu schnell erlischt: Erneut macht er auf dem Absatz kehrt und pflügt sich entschlossen durch das Gedränge bis zum Bahnhofsgebäude und dessen Treppe.
    Während er sich durchboxt, wandeln seine Gedanken auf den gleichen Pfaden wie zuvor. Elenden Wegen: zunächst matschigen, dann verschneiten, danach hartgefrorenen, anschließend in Schmelzwasser ertränkten und danach wieder matschigen. Der Waffenstillstand im September. Die sowjetischen Forderungen. Der Krieg in Lappland: gegen die Deutschen, die früheren Verbündeten. Ein kleiner Zaubertrick, binnen weniger Tage verwandelte sich Freund in Feind und Feind in Freund. Die Kämpfe im Herbst. Kemi, Rovaniemi, Muonio, die Städtchen und Dörfer, die in Schutt und Asche lagen, die Häuser waren verschwunden, nur rußige Schornsteine und halb eingestürzte Kamine zurückgeblieben. Nachklappkrieg und Hurenkind waren Sulo Manners eigene Bezeichnungen für diesen letzten Krieg, den er von Anfang an verabscheut und bei dem er auf der Stelle bereut hatte, in ihm zu kämpfen. »Hurenkind« war ein Wort, das er täglich in der Druckerei gehört hatte, in der er während des zwischenzeitlichen Friedens gearbeitet hatte und in die er nun zurückkehren würde: In der Setzerei war das »Hurenkind« eine einzelne Zeile, die zuoberst auf einer Seite, von ihrem Zusammenhang getrennt, landete. Sulo hasste den Krieg in Lappland nicht, weil er genauso grausam war wie die vorhergegangenen, denn so war es gar nicht gewesen: Er war nur so sinnlos gewesen. Eine Armee, die finnische, die gerade einen Krieg verloren hatte und mit knapper Not der Vernichtung entgangen war, jagte ein anderes erschöpftes und dem Untergang geweihtes Heer durch eine evakuierte und verwüstete Landschaft, eine Landschaft des Verlusts, in der die fliehenden Deutschen jede Brücke und jeden Fähranleger sprengten, alle Schienenstränge und Straßen verminten und jedes einzelne Dorf niederbrannten, das sie hinter sich ließen. Als eine Art Ausdruck für das Schweigen der Götter und die äußerste Sinnlosigkeit: Als genösse es der Mensch, ein letztes Mal zu zerstören und zu vernichten, bevor er selber unterging.
    Dabei war ihm noch im September alles ganz logisch und vernünftig erschienen, als Leutnant Kaarela dafür sorgte, dass Sulo vom Sergeant zum Fähnrich befördert wurde. Es war die Idee des Leutnants gewesen, dass Sulo im Dienst bleiben sollte. »Die Russen verlangen diesen Krieg von uns«, hatte Kaarela erklärt, »er bleibt uns nicht erspart. Stalin will, dass wir die Deutschen in ein paar Wochen aus dem Land werfen, aber ich kenne die Krauts und weiß, dass das nicht funktionieren wird. Zweihunderttausend Mann stehen da oben, ein Großteil von ihnen gehört zur SS, das kann den ganzen Winter dauern. Und in den Friedensbedingungen steht, dass wir unsere Kriegsarmee auflösen sollen. Wenn sich die Sache in die Länge zieht, werden wir folglich Wehrpflichtige einsetzen müssen. Wir brauchen tüchtige Offiziere, Männer, die noch im Vollbesitz ihrer Kräfte sind.« »Eine Kinderarmee, Herr Leutnant?«, hatte Sulo ungläubig gefragt. »Na ja, so alt war der Jahrgang des Fähnrichs nun auch wieder nicht, als er in den Krieg zog«, hatte Kaarela daraufhin ruhig und gelassen erwidert.
    Leutnant Kaarelas Bemerkung über den »Vollbesitz der
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