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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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wenn ich mich nicht täusche«, antwortete Sulo. » Ympäri käydään ja yhteen tullaan, man rennt und rennt, und dann trifft man sich wieder«, sagte Kari. »Ja, so läuft das im Leben«, meinte Sulo kurz, sah Kari an und fuhr fort: »Du siehst nichts mehr, was?« »Nee, aber das macht nichts«, antwortete Kari, »ich höre ja, was sie spielen.« »Unsinn, natürlich sollst du etwas sehen!«, schnitt Sulo ihm das Wort ab, bückte sich, packte den Rollstuhl und hob das Gefährt mit Kari darin hoch. Er bedeutete Elina und Lahja, ihm zu folgen, und bahnte sich erneut einen Weg zur Bahnhofstreppe. Diesmal machten ihm die Menschen gehorsam Platz, denn sie sahen ja, dass der hochaufgeschossene und kräftige Mann einen an den Rollstuhl gefesselten und sehr jungen Kriegsinvaliden schleppte. Als sie die Treppe hinaufgestiegen waren und Kari einen Platz am vorderen Rand des Absatzes bekommen hatte, drückte Elina dankbar Sulos Arm, und selbst Lahja schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
    Das Konzert dauerte lange, als die Dämmerung einsetzte, spielten die Peace Messengers immer noch. Die milchige Wolkendecke riss auf, die Luft wurde schneidend kalt, Sonnenstrahlen fielen auf den Järnvägstorget, sie waren bereits rot und schräg. Eine der letzten Nummern war Kerenskij , ein Couplet aus dem Revolutionsjahr 1917. Die Peace Messengers spielten die alte Revuenummer im Congatakt, verführerisch und drängend, und das Publikum – Sulo Manner war nicht der einzige Zuhörer mit einem Flachmann in der Tasche – war ausgelassen: Vierzigtausend Menschen sangen mit, so dass die Worte zwischen den Wänden des Bahnhofsgebäudes, des Fennia, des Ateneums und des Nationaltheaters hin und her geworfen wurden.
    Kerenskij knetete ’nen riesgen Teig,
in den wollt er das kleine Finnland kneten.
Aber oh je, oh je, oh je, Kerenskij,
Finnland gehört dem Russen nicht mehr.
    Als das Konzert vorbei war, verabschiedeten sich Sulo und Elina von Kari und Lahja. Trotz der wärmenden Schlucke aus Sulos Flachmann fror Kari mittlerweile in seinem Rollstuhl, und Lahja würde ihn nach Hause bringen.
    Sulo und Elina hatten keine Lust, den Abend zu beenden. Das Konzert hatte sie aufgeheitert, und sie waren aufgekratzt, weil in Europa Frieden herrschte. Außerdem waren sie verliebt: Während der letzten Nummer des Konzerts, einer Ballade, die keiner von ihnen kannte, hatte Elina sich fest an ihren Verlobten gepresst. Sie waren sechsundzwanzig und dreiundzwanzig Jahre alt, konnten aber nirgendwohin. Es gab keine freien Wohnungen in Helsingfors, die vorhandenen Zimmer wurden für die Vertriebenen aus Karelien gebraucht, es herrschte Mangel, Mangel, Mangel. In Sulos Elternhaus befanden sich seine Mutter und sein gichtkranker und ständig wütender Vater Ilmari sowie Sulos ältere Schwester Anneli und deren kleine Tochter Irja. Sulo selbst schlief auf einem Feldbett an der Wohnungstür. Und in zwei kleinen Zimmern in der Borgågatan hausten Elinas Mutter Kerttu und ihr Bruder Kari und die Halbschwester Taru. Außerdem hielt sich dort Elinas Stiefvater Honkanen auf, dem Sulo ein Dorn im Auge war.
    Sie flanierten in der Innenstadt auf und ab, und sanftes Dämmerungslicht senkte sich langsam herab, aber im Nordwesten, über dem Stadtteil Tölö, blieb der Himmel türkis. Zwischendurch saßen sie eine Weile auf einer Parkbank und unterhielten und küssten sich. Es wurde mehr geküsst als geredet, und hinterher erinnerte sich Elina, dass ihr mehrmals flüchtig der Gedanke gekommen war, dass es vieles gab, was sie über Sulo und alles, was er während der Kriege durchgemacht hatte, nicht wusste. Aber Sulo war niemand, der viele Worte machte, er wollte Dinge tun , so war er während ihrer gesamten Verlobungszeit gewesen, ja, in den ganzen drei Jahren, die sie sich kannten, und Elina wusste genau, was er jetzt tun wollte. Sie hatte es schon gespürt, als sie sich auf dem Platz berührt hatten, sie hatte es gespürt, als sie sich im Park der Alten Kirche den ersten Kuss gegeben hatten: Sulo war hungrig, ungeduldig. Elina zögerte. Es war nicht so, dass sie sich aus Prinzip zurückhielt, sie hatten es schon getan, wenn sie sich ein Zimmer besorgen und sicher sein konnten, nicht ertappt zu werden. Das erste Mal hatten sie sich in der Schrebergartenlaube von Elinas Onkel geliebt, während eines Heimaturlaubs im Sommer 1943, und in dem Häuschen im Stadtteil Hertonäs hatten sie es auch später getan, aber nun wusste Elina nicht, wohin sie gehen sollten, denn es war ein kühler
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