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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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warum Sulo nicht da war, hatten die anderen immer eine Erklärung zur Hand. Der Sommer der Olympischen Spiele war ihr als eine glückliche Zeit in Erinnerung geblieben, Sulo trank damals nicht, er hatte sich am Riemen gerissen und Geld gespart, und eines Tages waren sie alle, Jouni, Oskari, Sulo und sie, gemeinsam zu den Leichtathletikwettkämpfen gegangen: Sie erinnerte sich an einen brasilianischen Dreispringer, einen Neger, der so lange Beine hatte, dass sie gar nicht mehr aufhören wollten. Sie erinnerte sich auch an anderes: an die zahlreichen Zeitungsartikel über den beliebten Läufer Zatopek und seine Frau Dana und an das Malheur des zerstreuten Fahrers, der sich blamierte, als er mit seinem Coca-Cola-Laster gegen einen Baum fuhr, so dass alle Flaschen zu Bruch gingen.
    Danach wurden die Bilder düsterer: Im folgenden Winter bekam ihr kleiner Bruder Kari eine Lungenentzündung und starb, es geschah, nachdem Lahja es leid war und ihn verlassen hatte, aber nach den vielen Jahren im Rollstuhl war er ohnehin geschwächt. Karis Tod war ein schwerer Schlag für Sulo, er hatte immer sehr an seinem Schwager gehangen, die beiden blickten ja auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück, sie hatten in Lappland gegen die Deutschen gekämpft und so weiter. Nach Karis Tod ging es mit Sulo bergab, manchmal blieb er tagelang verschwunden, und die anderen Setzer konnten ihn nicht mehr schützen. Er wurde gefeuert und trank danach nicht mehr nur mit alten Freunden, sondern auch mit Elinas unberechenbarem Stiefvater Honkanen und dessen Kumpanen, was keine gute Idee war, denn Honkanen hatte genau wie seine Handlanger eine Strafakte, außerdem hassten Honkanen und Sulo sich. Nach Sulos Tod hatte Elina sich manchmal Vorwürfe gemacht, weil ihr die Kraft gefehlt hatte, weil sie so desinteressiert gewesen war, weil sie immer mehr die Augen davor verschlossen hatte, wie die Dinge lagen. Aber im Grunde wusste sie ja so furchtbar wenig über ihn, sie hatte doch keine Ahnung, was er an der Front durchgemacht hatte. Und sie sollte es auch nie erfahren: Sulo hatte seine Geheimnisse mit ins Grab genommen. Mit der Zeit hatte sie trotz allem aufgehört, sich Vorwürfe zu machen. Sie war immer mit dem Alltag beschäftigt gewesen, mit Jouni und Oskari und der Aufgabe, mit wenig Geld über die Runden zu kommen. Und seit ihrer Kindheit wusste sie, dass der Alkohol ein schrecklicher Herrscher war: Manchmal kam es ihr vor, als würde er die finnischen Männer mit noch mörderischer Präzision niederstrecken, als es den Bomben und Granaten der Russen jemals gelungen war. Jetzt, hinterher, hoffte sie lediglich, dass die Jungen nicht allzu großen Schaden genommen hatten, denn in ihrem letzten gemeinsamen Jahr hatte Sulo sie roh und hart behandelt, obwohl er sie so sehr liebte. Vor allem Jouni hatte er grausam behandelt, und manchmal dachte Elina, dass Sulo zu seinem Erstgeborenen besonders gemein gewesen war, weil er ahnte, dass Jouni aus härterem Holz geschnitzt war als er, der bereits untergegangen war. Oder er hatte sich einfach geschämt, weil ihn die Jungen so erbärmlich und schwach sahen, wie er war, wenn er heimkehrte, nachdem er wieder einmal verschwunden war. Jouni war damals nicht einmal zehn gewesen, er war vorlaut und ungehorsam, aber letzten Endes doch nur ein Kind, das seine Grenzen austestete. Sulo hätte ihn nicht mit dem Gürtel schlagen sollen, ihm nicht diese furchtbaren Dinge an den Kopf werfen sollen. Aber Sulo war in solchen Momenten nicht er selbst, er war sturzbetrunken, launisch und zügellos, nicht einmal Elina war vor ihm sicher. In ihrer Erinnerung war dieses Jahr wie der Geschmack von Metall, eine lange Wanderung in bleigrauem Nebel, und sie hatte ihre ganze Kraft darauf verwandt, Jouni, Oskari und sich zu schützen. Sicher, sie hatte getan, was in ihrer Macht stand, um Sulo zu retten, aber er wollte nicht, er war zerbrochen, sie sah es in seinen Augen, wenn er nüchtern war, dann hatte er Angst, kauerte sich zusammen, sah weg und schämte sich, bis er wieder zu Honkanen und seiner Bande floh, und sie soffen nicht nur zusammen, sie trieben auch anderes, Schnapsschmuggel, Einbrüche und Hehlerei, und am Ende wurde Sulo geschnappt, es passierte kurz vor dem Generalstreik, denn sie erinnerte sich, dass er währenddessen seine Strafe absaß. Bei den langen Aufmärschen der Streikenden auf dem Tavastvägen waren die Straßen schwarz vor Menschen, aber ihr Mann saß im Knast, und als er aus dem Gefängnis kam, lebte er nur
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