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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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schon Lehren für die Zukunft ableiten lassen, ist zu bezweifeln. Allgemein gilt, dass die Responsibility to Protect eine sehr große Rolle spielt, aber die Entscheidung fällt eher in einem jeweils sich neu formierenden politischen Kraftfeld, als dass es einen klar definierten Regelfall gibt. Es ist ein Kraftfeld, an dessen Ende eine politische Entscheidung stehen muss, die aber nur im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft umgesetzt werden kann. Wenn das nicht der Fall ist, kommt man schnell in die Abwägung, in der wir im Kosovo waren.
    STERN    Kraftfelder treffen keine Entscheidungen, die werden von konkreten Menschen gemacht. Wenn die Entscheidungen nicht durch den jeweiligen Ort bestimmt werden, das heißt nicht durch das Ausmaß der Verbrechen, sondern aus Kraftfeldern heraus, dann muss man eben diese Kraftfelder beeinflussen.
    FISCHER    Und trotzdem darf die Entscheidung nicht aus der Kalkulation dieser Kraftfelder allein getroffen werden. Das ist ja das Schwere, wenn du in der Regierung bist, dass du dann solche Entscheidungen treffen musst. Und wenn du sie nicht triffst, dann trifft es dich auch.
    STERN    Wer die Menschenrechte für unteilbar hält, hat eine natürliche Neigung zu sagen: Wenn es machbar ist, dann ist es fast schon eine moralische Pflicht.
    FISCHER    Dann warten wir mal ab, was passiert, wenn die westlichen Truppen aus Afghanistan raus sind, wie viele Barbareien gegenüber Frauen und Mädchen das westliche Gewissen aushalten wird. Es ist immer leicht, solche Fragen abstrakt zu diskutieren, aber wenn es konkret wird … Heute gibt es eine generelle Kriegsmüdigkeit, die fragt, was tun wir dort? Aber wenn es in Afghanistan zu einer Re-Talibanisierung kommt, die sehr schlimme Ausmaße annehmen wird, dann kann die öffentliche Meinung sehr schnell in die Gegenrichtung laufen, das darf man nicht vergessen. Grundsätzlich, da stimme ich Ihnen zu, sollte man immer eher in die Richtung gehen: Lass uns jetzt mal genau prüfen, ob wir eingreifen können. Nur, die Folgen nicht zu bedenken, das ist sehr gefährlich.
    STERN    Da komme ich nochmal zurück auf meine Frage. Gibt es denn nicht einen qualitativen Unterschied oder ein Kriterium, an dem sich die Notwendigkeit einer Intervention festmachen lässt, einen bestimmten Punkt, an dem es heißt: Ab da gehört das auf die Agenda der UN, und unterhalb dieser Schwelle ist es mehr eine innere Angelegenheit des jeweiligen Landes?
    FISCHER    Wer nach Srebrenica Bengasi drangeben wollte, den habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden. Man mag an der Libyen-Aktion vieles kritisieren, aber die Ankündigung Gaddafi s, wir machen in Bengasi Tabula rasa, die gab es nun mal, und zwar glaubhaft, und so wäre es auch geschehen. Ich verstehe bis heute nicht dieses Desaster der deutschen Außenpolitik, sich da nicht zu beteiligen, zumal von uns niemand erwartet hat, dass wir da vorneweg gehen. Aber dass wir im Sicherheitsrat nicht zugestimmt haben, das erschließt sich mir nicht. Und das ist mitnichten abgetan, sondern wohin man kommt bei unseren Bündnispartnern, geht sofort die Debatte los.
    STERN    Dieses Nein in Bezug auf Libyen habe ich genauso wenig verstanden, besser gesagt, sofort bedauert, ganz anders als das deutsche Nein beim zweiten Irakkrieg. Das haben viele in Amerika verstanden, weil die Deutschen das sehr gut glaubhaft gemacht haben. Vielleicht hat Westerwelle sich von dem Nein zu Libyen eine ähnliche Zustimmung versprochen, wie sie Schröder seinerzeit mit dem Nein zum Irak bekam.
    FISCHER    Das ist eine andere Frage, zu der ich mich nicht äußern will. Nur so viel: Der deutsche Außenminister 2011 hat den Unterschied nicht begriffen, denn beim zweiten Irakkrieg waren wir an der Seite Frankreichs, wir standen nicht allein, und hatten zudem die Fakten auf unserer Seite.
    STERN    Ja, aber die Haltung Frankreichs beim zweiten Irakkrieg war unsicher, und erst im letzten Moment …
    FISCHER    Darum drehte sich die interne Debatte zwischen Schröder und mir bis zum letzten Moment: Was tun wir, wenn wir alleine bleiben? Und ich habe klar gesagt: Eine Isolierung Deutschlands mache ich nicht mit. Da war ich entschlossen, zurückzutreten. Ich hätte vier Jahrzehnte Westintegration nicht drangegeben. Ich habe den Irakkrieg für völlig falsch gehalten, für einen gewollten Krieg, aber wie gesagt, es gibt Kraftfelder, in denen solche Entscheidungen fallen, und unser Kraftfeld war und ist das westliche Bündnis.
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