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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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ganz anders mit den Russen.
    FISCHER    Aber nicht, weil sie eine Weltmacht sind, sondern weil sie der indirekte Nachbar sind.
    STERN    Ja, sind sie der indirekte oder nicht doch der direkte Nachbar? Das ist ja schon die nächste Machtfrage.
    FISCHER    Das ist eine der zentralen Fragen der postsowjetischen Ordnung in Europa. Was wird aus der Ukraine? Was wird aus Weißrussland? Wenn das in Richtung Eurasische Union geht, wenn wir die Ukraine sozusagen …
    STERN    Ziehen lassen.
    FISCHER    Wir können sie nicht dran hindern. Aber wenn wir sie wegdriften lassen, wenn wir uns um sie nicht kümmern, dann werden wir in der Tat eine Veränderung der postsowjetischen Ordnung in Europa erleben. Die Ukraine ist deren Eckstein, das wissen die Polen sehr genau. Und bedauerlicherweise wissen das andere in Europa nicht.
    STERN    Aus russischer Sicht sieht das anders aus. Da unternimmt der Westen zahlreiche Anstrengungen, Weißrussland und die Ukraine aus der russischen Hemisphäre herauszubrechen, und das können und wollen die Russen nicht zulassen. Ich finde, dass der Westen bisher kein schlüssiges Konzept entwickelt hat und zum Teil unüberlegt agiert, wenn Sie etwa an den geplanten Raketenschild denken.
    FISCHER    Der richtet sich aber doch nicht gegen Russland.
    STERN    Die Russen fühlen es aber so.
    FISCHER    Die Russen fühlen das nicht. Aus meiner Sicht wird das von Russland benutzt.
    STERN    Propagandistisch, meinen Sie?
    FISCHER    Als eine diplomatische Interventionskarte, bis hierher und nicht weiter. Vielleicht können wir uns darauf verständigen zu sagen: Über die Ukraine gibt es einen echten Dissens, und die Frage ist, wie wird der Westen sich verhalten? Gibt er die Ukraine auf? Sagen wir, okay, soll die Eurasische Union doch entstehen? Ich hielte das für einen großen Fehler.
    STERN    Am wichtigsten scheint mir, dass wir nicht wieder in die Mentalität des Kalten Krieges verfallen, so als ob alles, was Russland schwächt, uns zugute käme. Ich finde übrigens, dass die Bundeskanzlerin, was Russland anbelangt, ein gutes Gespür hat.
    FISCHER    Richtig. Einbindung statt Konfrontation sollte die politische Grundlinie heißen, aber ohne Illusionen und falsche Nachgiebigkeit.
    STERN    Dann komme ich zu der zweiten Frage, die ich noch loswerden wollte, und die betrifft den Kosovo-Einsatz. Ich habe das damals vollkommen verstanden und fand die Intervention absolut notwendig. Was mich nicht ganz überzeugte, war die spezielle Begründung, die Sie als deutscher Außenminister gegeben haben. Sie haben damals in etwa gesagt – ich zitiere aus dem Kopf: Weil wir Deutsche Auschwitz zu verantworten haben, tragen wir eine besondere Verantwortung dafür, dass sich so etwas nie wiederholt.
    FISCHER    Halt, Fritz. Was genau habe ich gesagt? Und wann habe ich es gesagt? Wir hatten neulich eine Diskussion mit meinem früheren französischen Kollegen Hubert Védrine, der uns zwei Mal nachdrücklich aufgefordert hat, das mit der Vergangenheit jetzt mal endlich gut sein zu lassen, weil er meinte, das wäre ein Hemmnis gegen eine aktivere militärische Rolle Deutschlands. Ich halte das für keine gute Idee, habe ich ihm geantwortet, und das wird auch nicht funktionieren.
    STERN    Aber Sie haben es doch beim Kosovo-Einsatz geradezu umgedreht: Weil Deutschland diese Vergangenheit hat, ist es zum Eingreifen besonders verpflichtet.
    FISCHER    Nee, was habe ich genau gesagt und wann beim Kosovo-Einsatz? Am Tag, an dem die Serben mit Deportationen aus Pristina begonnen hatten, habe ich eine Pressekonferenz gegeben. Ich habe mich dort vor allen Dingen mit dem linken Flügel in unserer Partei und mit der Friedensbewegung auseinandergesetzt, indem ich gesagt habe: «Ich habe zwei Dinge gelernt, nämlich nie wieder Krieg und nie wieder Völkermord, nie wieder Auschwitz.» Das sind zwei unterschiedliche Lektionen, die sich für mich aus der jüngeren deutschen Geschichte ergeben, und ich bin in der Tat der Überzeugung, das daraus eine Verpflichtung erwächst. Durch die Balkan-Kriege erfuhr ich aber zum ersten Mal in meinem politischen Leben eine Konfrontation zwischen diesen beiden Lektionen, nämlich dass Nie-wieder-Krieg im Widerspruch stand zu Nie-wieder-Völkermord, und in Deutschland heißt das im Klartext: Nie wieder Auschwitz. Bei jedem rassistisch motivierten Angriff von Neonazis auf Zuwanderer hat die pazifistische Linke zu Recht mit einem «Wehret den Anfängen!»
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