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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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argumentiert, in Bosnien und im Kosovo sollte man dies angesichts der grauenhaften Verbrechen und ihrer politischen Ursachen aber nicht sagen dürfen, weil es innenpolitisch den «Pazifisten» nicht in den Kram passte? Zu meiner Meinung von damals stehe ich nach wie vor, da habe ich nichts zurückzunehmen. Ich war später im Kosovo und habe bei so einer Hinrichtungsstätte ein schottisches Pathologenteam bei der Arbeit gesehen und habe mir das alles sehr genau angeschaut, weil ich der Meinung war, jemand, der dort Soldaten hinschickt, hat hinterher auch die Pflicht hinzugehen. Sie müssen ja nur die Berichte oder die Urteile des Gerichtshofs in Den Haag lesen: Srebrenica hat stattgefunden, es ist nichts, was Joschka Fischer behauptet.
    STERN    Es ist für mich als Amerikaner zutiefst beschämend, dass die USA den Internationalen Gerichtshof noch immer nicht anerkennen.
    FISCHER    Weil sie der Meinung sind, dass ihre Soldaten die ersten wären, die dort angeklagt würden, weil sie international eben so oft eingesetzt werden müssen. Ich glaube, das ist ein großer Irrtum, denn Den Haag würde die US-Soldaten eher schützen. Es hat mich viel Arbeit gekostet, Condoleezza Rice davon zu überzeugen, dass die Verantwortlichen für die Massaker in Darfur vor den Internationalen Gerichtshof gestellt werden müssen. Als die Darfur-Resolution im Sicherheitsrat verabschiedet wurde, haben die USA und Deutschland sehr eng zusammengearbeitet, und beide haben auch dafür gesorgt, dass das Petitum vieler Nichtregierungsorganisationen aufgenommen wurde, die Verantwortlichen für die Gräueltaten dort vor Gericht zu stellen. Deutschland war damals nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat. Als wir uns über die Resolution fast einig waren, klingelte das Telefon – ich war noch in New York –, und am anderen Ende war meine amerikanische Kollegin. Also der internationale Strafgerichtshof ginge auf keinen Fall. Ich habe mit Engelszungen auf sie eingeredet: Mach dich nicht lächerlich, mach die USA nicht lächerlich. Zu verlangen, für teures Geld einen Sonderstrafgerichtshof einzurichten, das ist doch grotesk. Das Einzige, was infrage kam, war der Internationale Strafgerichtshof. Und nach einigen Tagen ist es dann gelungen, die US-Regierung davon zu überzeugen, dass dies keine Zustimmung der USA zur Institution bedeutet, sondern nur die Nutzung einer vorhandenen Institution, um das Strafrecht international durchzusetzen.
    STERN    Als Sie in dieser Pressekonferenz Ihre eigene Erfahrung als Argument ins Spiel brachten, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, und den Widerspruch, den Sie da empfanden, muss Ihnen eigentlich bewusst gewesen sein, dass genau dieser Widerspruch für viele Leute eine Intervention grundsätzlich ausschloss.
    FISCHER    Von welchen Leuten reden wir da? Von denselben Leuten, die das «Nie Wieder!» dauernd im Munde führten. In Solingen, als die Häuser der türkischen Zuwanderer brannten und mehrere Tote zu beklagen waren, war das Argument sofort: «Nie wieder!» In Rostock, in Hoyerswerda, immer war das Argument: «Nie wieder!» Zu Recht! Ich kritisiere das nicht. Aber Herr Milošević hätte sich durch Lichterketten sicher nicht beeindrucken lassen. Oder sollten wir bei diesem schlimmsten Rückfall in die europäische Geschichte der dreißiger und vierziger Jahre den Mund halten, weil Herr Milošević Bündnispartner verschiedener linker Gruppen und der Linkspartei war?
    STERN    Das war mit einem Kriegseinsatz verbunden.
    FISCHER    Ja, das war ein Kriegseinsatz. Die Kritik an der Polizei in Solingen damals, in Hoyerswerda und in Rostock war, dass sie nicht schnell genug da war und die Tat nicht verhindert und die Kerle nicht festgenommen hat. Die Kritik kam von links: Der Staat handelt nicht. Zu Recht! Der Staat hätte dort sehr viel energischer und schneller handeln sollen. Auf dem Balkan haben wir doch Jahre gewartet und bei grauenhaften Verbrechen tatenlos zugesehen. Dabei war offensichtlich, was in Bosnien geschehen war. Wollte man im Kosovo wieder abwarten – bis es danach in Mazedonien weitergehen würde? Das leuchtete mir alles nicht ein.
    STERN    Seit Srebrenica war ziemlich klar, wie das läuft.
    FISCHER    Ja, für mich war Srebrenica der Wendepunkt. Da sagte ich mir: Fischer, jetzt bist du in der Situation, die du deinen Alten immer vorgeworfen hast. Das war für mich der Punkt. Ich wusste, das kann für meine Partei tragisch enden, aber das hat mich dann nicht mehr
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