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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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interessiert.
    STERN    Man kann aus der Geschichte lernen.
    FISCHER    Ja. Und wissen Sie was? Ich konnte mich morgens im Spiegel nicht mehr sehen beim Rasieren. Ernsthaft. Derselbe Feigheitsvorwurf, den der junge Fischer seinen Eltern gegenüber am Küchentisch vorgebracht hat, der schallte mir da plötzlich von meinem eigenen Spiegelbild entgegen.
    STERN    Das bestätigt meinen Eindruck, und so wurde es damals ja auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen, dass das sehr stark von Ihrer Person ausging, dass hinter dem Einsatz deutscher Truppen im Kosovo Joschka Fischer stand.
    FISCHER    Ja, sicher, weil ich darum kämpfen musste. Gerhard Schröder musste darum nicht kämpfen. Es war eine gemeinsame Entscheidung, aber ich will mich da gar nicht wegducken, ich war seit Srebrenica entschieden. Ich habe das Milošević auch gesagt: Da ist eine rote Linie, wir sind nach Bosnien bösgläubig, und Bosnien wird sich nicht wiederholen. Wir wissen, was kommt, und das werden wir – die Nato, angeführt von den USA – ein zweites Mal nicht zulassen. Er hat das nicht ernst genommen, aber wir haben es nicht zugelassen, und das war auch richtig.
    STERN    In den USA gab es damals eine heftige Debatte. Madeleine Albright wurde von den Republikanern scharf angegriffen, ein solcher Einsatz liege nicht im nationalen Interesse, das sei humanitäre Duselei.
    FISCHER    Man muss ehrlicherweise sagen, dass der Westen damals ein ziemlich desolates Bild abgab. Europa war zerfallen in die Fronten des Ersten Weltkriegs, erneut stand Berlin gegen Paris und London, wir hatten plötzlich wieder die Situation von 1914, als wenn die europäische Integration der vergangenen Jahrzehnte nie stattgefunden hätte. Und es waren dann ein weiteres Mal die USA, die klargemacht haben, was notwendig ist. Spätestens nach der Bombardierung von Dubrovnik, aber eigentlich schon nach der Zerstörung von Vukovar, hätte man allen Beteiligten, nicht nur Milošević, sondern allen Beteiligten klarmachen müssen: Ihr habt zwei Optionen, entweder helfen wir euch bei einer neuen Verfassung, und ihr lebt weiter zusammen, oder es kommt zu einer zivilisierten ordentlichen Scheidung, wie es die Tschechen und Slowaken gemacht haben. Wenn ihr aber so weitermacht, kommen wir mit 100.000 oder 200.000 Mann und allem, was wir militärisch haben, damit das Morden und Vergewaltigen aufhört. Da wäre Bosnien noch zu retten gewesen. Zu einer solchen Geschlossenheit war der Westen leider nicht in der Lage. Aber im Kosovo wusste man dann, was kommen würde, verstehen Sie? Mazedonien wäre die nächste Station gewesen, und spätestens da hätten sich die jugoslawischen Erbfolgekriege internationalisiert, weil Mazedonien und Bulgarien betroffen gewesen wären, Albanien, Griechenland und die Türkei, beides Nato-Mitglieder. Mazedonien stand im Zentrum der Balkankriege von 1912/13, das darf man nicht vergessen.
    STERN    Aber die Anerkennung von Kroatien war ein großer Fehler.
    FISCHER    Ein ganz großer Fehler von Genscher. Milovan Djilas hat in einem «Spiegel»-Interview damals sinngemäß gesagt, dass die Anerkennung Kroatiens das Ende Jugoslawiens bedeutet und damit auch das Ende des kleinen Jugoslawiens namens Bosnien, und so war es dann auch. Man hat Kroatien anerkannt, aber es war niemand vorbereitet auf die Konsequenzen, die daraus folgten.
    STERN    Was war das Motiv für die Anerkennung?
    FISCHER    Das dürfen Sie nicht mich fragen. Ich glaube, es war so eine Mischung aus innenpolitischem Druck – Reißmüller und die FAZ spielten da eine unrühmliche Rolle – und Sentiment: Jetzt haben wir die Einheit, da können wir anderen schlecht das Selbstbestimmungsrecht verwehren. Es war ein Stück weit auch der Versuch einer Revision der Pariser Vorortverträge von 1919/20. All das spielte, glaube ich, mit hinein, aber ich weiß es nicht, das ist Spekulation.
    STERN    Ich schließe aus dem, was Sie sagen, dass der richtige Zeitpunkt für eine Intervention im ehemaligen Jugoslawien möglicherweise verpasst wurde. Gibt es irgendwelche Kriterien, die es erlauben, diesen Zeitpunkt genauer zu bestimmen? Ich frage, weil ich mir wünschen würde, dass die internationale Staatengemeinschaft aus den Balkankriegen eine Lehre zieht und in Zukunft mit mehr Geschlossenheit, entschiedener und rechtzeitiger über einen humanitären Einsatz entscheidet.
    FISCHER    Was das ehemalige Jugoslawien angeht, sind wir heute alle klüger. Aber ob sich daraus auch
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