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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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   Ja, aber so ist es nun mal, das gehört eben auch zum wiedervereinigten Deutschland. Soll ich darüber klagen? Et kütt, wie et kütt, sagt der Rheinländer.
    STERN    Ich würde nur hinzufügen, wie gesagt, dass es nicht nur eine Frage der Verfassung war, sondern eine Frage der Psychologie. Die DDR wurde ja regelrecht abgewickelt, so wie man ein Unternehmen abwickelt, das in Konkurs gegangen ist. Oder zumindest haben es viele Ostdeutsche so empfunden. Das etwas vornehmere Wort dafür hieß evaluieren, alles wurde angeblich evaluiert, aber was ich zum Beispiel an den Universitäten erlebt habe, lief in Wirklichkeit auf eine Säuberung hinaus, und das hat die Ostdeutschen mit Recht verbittert.
    FISCHER    Hat die PDS stark gemacht.
    STERN    Ja. Hinzu kam, dass die Wessis ziemlich überheblich auftraten und alles besser wussten.
    FISCHER    Und es waren nicht immer die Besten, die in den ersten Jahren in die neuen Bundesländer gingen. Es sind auch gute Leute hingegangen, aber bei vielen Professoren, die aus dem Westen kamen, dürften sich die Kollegen im Osten schon gefragt haben, warum sie für solche Pfeifen in den Zwangsruhestand versetzt wurden.
    STERN    Und im Seminar sitzt ein Student und sagt sich: Dafür bin ich doch am Montag nicht auf die Straße gegangen.
    FISCHER    Ja, und das war dann der Unterbau, der emotionale, aber auch der personelle Unterbau mitsamt deren Knowhow, auf dem die PDS aufbauen konnte. Die ist nicht umsonst eine starke Partei im Osten.
    STERN    Man hätte den neuen Bundesländern die bundesdeutsche Gesetzgebung, insbesondere die Ausführungsbestimmungen zu einzelnen Gesetzen, nicht von Heut auf Morgen überstülpen dürfen.
    FISCHER    Sondern wie?
    STERN    Stufenweise.
    FISCHER    Ja, aber welcher Investor geht dahin, wenn die Gesetzeslage nicht klar ist? Das war nicht so einfach. Zweifellos wurden große Fehler gemacht, aber in einer solchen Umbruchsituation gibt es nun einmal keine Lehrbücher, und deswegen bin ich der Meinung, alles in allem ist das schon gut gelaufen. Natürlich gibt es jede Menge Geschichten zu erzählen, wie da Gemeinden plötzlich zu Kläranlagen kamen, die ihren Bedarf um ein Vielfaches überstiegen, was dann zu ruinösen Abwasserpreisen führte und und und. Aber das war die Anfangsphase, «Wildost» sozusagen. Auf der anderen Seite hängt ein guter Teil der wirtschaftlichen Stärke, über die Deutschland gegenwärtig verfügt, auch damit zusammen, dass wir mit der Einheit, was die ökonomische Seite und die Infrastruktur angeht, weitgehend durch sind. Strukturschwache Gegenden wie Mecklenburg-Vorpommern oder Teile von Brandenburg waren schon vor dem Krieg benachteiligt. Solche Gegenden gibt es aber im Westen genauso.
    STERN    Einverstanden. – Mich beschäftigt in diesem Zusammenhang noch etwas anderes, denn ein Name ist im Verlauf unseres Gesprächs noch überhaupt nicht gefallen, der Name Gorbatschow. Das geht nicht. Ich meine, ohne Gorbatschow wäre es nicht zur deutschen Einheit gekommen. Wir haben übereinstimmend festgestellt, dass Kohl sich große Verdienste erworben hat. Aber er hatte einen Partner – und das war, historisch gesehen, ein unwahrscheinlicher Glücksfall –, der die Wiedervereinigung in einem internationalen Rahmen ermöglichte.
    FISCHER    Unter Putin hätte sie nicht stattgefunden.
    STERN    Genau.
    FISCHER    Gorbatschow und Schewardnadse. Zu Schewardnadse kann ich eine Geschichte erzählen. Als ich zum ersten Mal nach der Revolution in Tiflis war, wollte ich als Bundesaußenminister Schewardnadse treffen, und die georgische Regierung hatte natürlich ganz lange Zähne, weil er das alte Regime repräsentierte. Ich habe denen gesagt: Hört zu, das richtet sich überhaupt nicht gegen euch, aber ihr müsst wissen, was immer Schewardnadse tut, ob wir da übereinstimmen oder nicht, es müssten schon ganz schlimme Dinge passieren, dass wir Deutsche ihm nicht unsere Dankbarkeit versichern. Solange nur einer von denen lebt, die die Nacht vom 9. November 1989 mitbekommen haben und dann den 3. Oktober 1990, werden Gorbatschow und Schewardnadse in Deutschland Ehrenbürgerrecht genießen. Also, habt euch nicht so, ich geh’ den jetzt besuchen. Die georgische Regierung hat das dann auch verstanden.
    STERN    Ich wünschte, dass ich wirklich glauben könnte, was Sie da sagen. Sie haben vollkommen recht, aber ich bezweifle, ob das in der jetzigen deutschen Bevölkerung auch so verstanden
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