Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
Vom Netzwerk:
   Aber gibt es nicht überall den Ehrgeiz, hochdeutsch zu sprechen? Ist nicht in allen Schichten das Bewusstsein vorhanden, dass man mit Hochdeutsch besser vorankommt und es gesellschaftlich weiter bringt?
    FISCHER    Das würde ich so nicht sagen. Für mich ist der freizügige Gebrauch der Sprache Ausdruck eines egalitären und föderalen Verständnisses. In Deutschland gab es keinen Anspruch des Zentralstaates auf sprachliche Homogenisierung. Dann wären weder Adenauer noch Schmidt noch Kohl Kanzler geworden. Helmut Schmidts Hamburgisch: Jeder, der Ohren hat zu hören, hört sofort, wo er herkommt. Seit die Einheit da ist, macht sogar das sächsische Idiom wieder Karriere. Mit dem hatte ich schon zu tun, als mein Interesse am anderen Geschlecht erwachte. Eines Tages erschien ein Mädchen in unserer Klasse, die einen ganz schweren sächsischen Dialekt sprach; sie gehörte zu den Flüchtlingskindern aus der DDR, von denen pro Halbjahr ein oder zwei in unsere Klasse kamen. Sie konnte sich nur mühsam verständlich machen und verstand ihrerseits kaum den schwäbischen Dialekt.
    STERN    Der Dialekt gehört für viele wohl ganz elementar zu der Vorstellung von Heimat. Aber Ihren Vorschlag, Heimat über die Namen auf den Grabsteinen zu definieren, finde ich eigentlich recht überzeugend. Es erinnert an die schöne Formulierung von Carl Zuckmayer, Heimat sei da, wo man begraben werden möchte.
    FISCHER    Sie müssen sich ein streng katholisches Dorf im Schwäbischen vorstellen, dessen Bevölkerung Anfang der fünfziger Jahre durch die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen plötzlich verdoppelt wird. Die Fremden ziehen in die Neubausiedlungen am Rande des Dorfes, und mit ihnen kommen die ersten Evangelischen ins Dorf. Ich bin gewissermaßen mit den Feindschaften des Dreißigjährigen Krieges groß geworden, weil das Dorf eine Enklave bildete, die bis Napoleons Zeiten zum Bistum Augsburg gehörte in einem rein pietistisch-protestantisch-württembergischen Umfeld. Alle Nachbardörfer bis auf eines waren streng protestantisch. Als Anfang der sechziger Jahre in einem Nachbardorf die erste katholische Kirche gebaut wurde, erregte das genau so großes Aufsehen wie der Bau der ersten protestantischen Kirche bei uns. Heute gehören beide Gemeinden zu Fellbach am Ortsrand von Stuttgart, und es ist eine völlig andere Lage. Damals gab es die Einheimischen, und es gab die Zugezogenen, die Reing’schmeckten. Als Kind spürst du den Unterschied sehr genau.
    STERN    Sie sind dort geboren?
    FISCHER    Nein, nein. Als wir nach Oeffingen kamen, war ich sechs, als ich weg bin, 16. Das waren entscheidende Jahre, aber geboren bin ich in einer wunderschönen Gegend, an der Jagst in Hohenlohe. Das war ein von der Industrialisierung verschonter Winkel; erst als in den siebziger Jahren die Autobahn gebaut wurde, zog da die Moderne ein. Als ich 2006/07 in Princeton war, fragte mich einer der alten Alumni, die mich zum Mittagessen eingeladen hatten, in sehr gutem Deutsch, wo ich denn herkomme. Den Ort kennen Sie nicht, meinte ich. Oh, sagte er, sagen Sie mir von wo. Sage ich, Langenburg. Ja, natürlich kenne ich das, ich war beim Militär in Crailsheim stationiert. In Schwäbisch Hall und Crailsheim war eine große amerikanische Garnison, und die fuhren da oft vorbei.
    STERN    Aus Schwäbisch Hall stammt die Familie Bonhoeffer. Ich beschäftige mich zur Zeit mit Karl Bonhoeffer, dem berühmten Psychiater, und seiner großen Familie.
    FISCHER    Eine wunderschöne Gegend. Auch heute noch. Eine Hochebene mit zwei Einschnitten, Kocher- und Jagsttal.
    STERN    Wunderbar.
    FISCHER    Und sehr romantisch. Eine gute Mischung aus schwäbischen und fränkischen Elementen. An der Jagst ist es fränkisch, das heißt konservativ und doch sehr offen. Am Kocher schlägt die schwäbische Mentalität stärker durch.
    STERN    Sie scheinen diese Gegend wirklich sehr zu lieben. Das führt mich noch mal zurück zu der Frage nach der Heimat. Viele Heimatvertriebene haben sich ja offenbar als Menschen zweiter Klasse gefühlt. Sie selber haben eben erwähnt, dass Sie die «feinen Unterschiede», wie Pierre Bourdieu sie nennt, als Kind sehr genau gespürt haben. Trotzdem identifizieren Sie sich heute mit der Gegend, in der Sie Ihre ersten Jahre verbracht haben. Fällt Ihnen das leichter, weil Sie bereits hier geboren wurden, oder haben Sie die neue Heimat irgendwann einfach akzeptiert?
    FISCHER    Ich bin jedenfalls kein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher