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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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klassische CDU-Stammwähler. Ein CDU-Landtagsabgeordneter kam aus demselben Dorf wie meine Eltern, er hatte ihnen den Lastenausgleich gemacht, und dafür waren sie ihm ewig dankbar. Wenn Landtagswahlen in Baden-Württemberg waren, sind meine Eltern mit dem Bus gefahren, dann mit der Straßenbahn, dann nochmal umgestiegen, nur um nach einer Stunde in dem Wahlkreis dieses Abgeordneten irgendwo im Großraum Stuttgart ihr Kreuzchen hinter seinem Namen machen zu können. Sie hatten zuvor ein längeres bürokratisches Antragsverfahren durchlaufen müssen, dass sie ihre Stimme nicht an ihrem Wohnort, sondern in diesem bestimmten Wahlkreis abgeben durften. Daran hielten sie fest aus Dankbarkeit. Das waren Parteiloyalitäten, von denen man heute in den Volksparteien nur träumen kann. Als Kind wurde ich halt mitgeschleift, weil Sonntag war, und dann war ich an der Hand mit dabei. Daher dann auch später die Rebellion gegen dieses Milieu, das konservativ-katholisch-kleinbürgerlich-dörfliche. Diese Enge hat mich später rasend gemacht, und in früheren Zeiten wäre ich der typische Kandidat gewesen, der nach Amerika ausgebüxt wäre. Es war wunderschön – bis zu dem Augenblick, wo ich anfing, eigene Gedanken zu haben.
    STERN    Eigene Gedanken – wann war das ungefähr?
    FISCHER    Na ja, so mit 15 oder 16.
    STERN    Das scheint mir recht spät.
    FISCHER    Es ging ja damals alles sehr viel später los als heute.
    STERN    Oder gestern, wenn ich an meine Kindheit denke. – Gab es einen besonderen Anlass für die eigenen Gedanken? Ein Ereignis? Ein Buch?
    FISCHER    Ich war eine Leseratte und habe die ganze Dorfbibliothek leer gelesen. Später als Abgeordneter oder Minister habe ich deshalb immer Wert darauf gelegt, dass öffentliche Bibliotheken weiter gefördert wurden, weil ich wusste, was ich ihnen verdanke. Meine Eltern konnten sich Bücher nicht leisten, zudem war Lesen in unserem Milieu nicht gerade angesagt. Also ich habe von den öffentlichen Bibliotheken gelebt.
    STERN    Und die hatten genug subversive Literatur?
    FISCHER    Überhaupt nichts Subversives, da war gar nix. Die Subversion, Fritz, die kam ganz woanders her.
    STERN    Nämlich?
    FISCHER    Die prägende Subversion meines Lebens war Bob Dylan, das war die prägende Subversion.
    STERN    Interessant.
    FISCHER    Die Musik bringt ja ein Gefühl rüber, selbst wenn du die Texte kaum verstehst – ich konnte ein bisschen Schulenglisch, mehr nicht. Aber der Text war nicht das Entscheidende, sondern die tiefe Sehnsucht, der weite Horizont, den diese Lieder vermitteln. Da fragst du dich, warum es dir hier so schlecht geht, wo es doch auch ganz anders gehen könnte. Die Freiheit aufzubrechen – das war für mich, wenn Sie so wollen, der entscheidende Kick.
    STERN    Auf Bob Dylan musste man erst einmal kommen, das war doch in der schwäbischen Provinz nicht eben die Hausmusik.
    FISCHER    Doch, doch, vielleicht mit ein oder zwei Jahren Zeitverzögerung. Es gab ja bei uns früher diese Plattenläden, wo die Platten an der Theke aufgelegt wurden. Da stand ich dann und habe mir die erste Platte auflegen lassen, «The Freewheelin’ Bob Dylan», wo «Blowin in the wind» drauf ist, und das hat mich weggerissen. Das war’s eigentlich.
    STERN    Und was war der nächste Schritt?
    FISCHER    Der nächste Schritt war, dass ich die Schule verlassen habe. Ich begann schon vorher beim Lernen zu lahmen. Ich habe dann eine Fotografenlehre begonnen. Inzwischen hatte ich allerdings ein Problem mit der Autorität, und je älter und selbständiger ich wurde, desto weniger konnte ich Autorität ertragen. Ich konnte sie nicht ertragen. So endete die Lehre nach einem Jahr.
    STERN    Auch nicht familiäre Autorität?
    FISCHER    Auch nicht mehr. Das ging alles nicht mehr. Und eines Morgens: Um acht Uhr begann die Arbeit – um fünf nach acht war sie beendet, und zwar dauerhaft. Der Chef raunzte mich an, und da habe ich ihm gesagt, Entschuldigung, er könne mich mal, habe die Türe hinter mir zugeknallt und bin gegangen.
    STERN    Gewissermaßen das Ende einer katholischen Kindheit.
    FISCHER    Jedenfalls bin ich dem Katholizismus damals glücklich entronnen. Formal bin ich allerdings immer noch Mitglied, wenn auch ein ungläubiges. Ich brauche keine Rückversicherung nach dem Motto, vielleicht könnte am Ende doch was dran sein. Aber die kulturelle Prägung ist einfach unauslöschlich. Im Übrigen bin ich der Meinung,
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