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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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geflohen waren, zur Post gebracht habe. 1990, als Václav Havel sich bei den Deutschen für die Vertreibungen entschuldigt hat, schrieb ich in der «New York Times» einen Kommentar, in dem ich Havels Rede eine Geste der Großmut und eine historische Leistung nannte. Ich bekam auf diesen Artikel viele hasserfüllte Briefe, die meisten von Slowaken, die mich darüber aufklärten, dass die eigentlichen Schweine die Tschechen seien. Nun gut. Dann bekam ich aber einen Brief von einem Rabbiner, der sich wahnsinnig beschwerte. Ich hatte in meinem Artikel eine Freundin meiner Eltern erwähnt, eine Sozialdemokratin aus dem sogenannten Sudetenland, deren Familie seit Jahrhunderten dort gelebt hatte und die bei der Vertreibung umgekommen war. Wie können Sie sich hinstellen und diese Frau erwähnen, wo sechs Millionen gestorben sind, empörte sich der Rabbiner. Natürlich konnte ich es. Aber die Reaktion zeigte mir, wie schwierig das Gespräch noch werden würde.
    FISCHER    Meine Frage zielte eigentlich in eine andere Richtung.
    STERN    Das habe ich schon verstanden, und ich will Ihnen auch gern eine Antwort geben. Für den Großteil der europäischen Bevölkerung waren die Jahre des Krieges und die ersten Nachkriegsjahre eine Zeit der Deportationen, der Bombardierungen und der entsetzlichen Verluste, der Vertreibungen und des Mangels. Die Deutschen waren davon erst in den letzten Kriegsjahren betroffen, erst 1943/44, mit den Bombardements, hat sich die Ausgangssituation geändert, da war es nicht mehr so angenehm in Deutschland. Das Schicksal der Bonhoeffer-Familie, mit dem ich mich zur Zeit intensiv beschäftige, hat mir das noch einmal sehr nahegebracht. Während für die Deutschen die Zeit des Mangels und der Flucht also eher kurz war, war sie für weite Teile Europas unendlich lang. Man soll die ansteckende Verrohung unter allen europäischen Nationen nicht unterschätzen. Und deshalb hat man sich nach dem Krieg außerhalb Deutschlands für das Schicksal der aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen eigentlich nicht sonderlich interessiert. – Den meisten Deutschen ging es während des Krieges recht gut, und nach einer relativ kurzen Zeit ging es ihnen relativ schnell wieder gut, jedenfalls in den westlichen Besatzungszonen. Man hat mir erzählt, dass man eine Woche nach den schweren Luftangriffen auf Berlin im November 1943 bei Horcher wieder Austern essen konnte.
    FISCHER    Wenn man zu den richtigen Kreisen gehörte, Fritz! Und im Ghetto von Lodz gab’s keine Austern.
    STERN    Das Böse war überall.
    FISCHER    Ja, aber im Ghetto von Lodz herrschte es mit sadistischer Perfidie.
    STERN    Auch die war leider weit verbreitet. – Die große Frage, die wir überhaupt noch nicht angesprochen haben, lautet, wer wusste von diesen Sachen. Die Legende von der sauberen Wehrmacht ist ja gründlich widerlegt. Aber es gab Einzelne, Soldaten und Offiziere, die genau beobachteten, sich ihre Gedanken machten und spätestens auf Heimaturlaub auch davon erzählten.
    FISCHER    Ich bin kein Historiker. Aber in einem Buch über die Weiße Rose las ich Ausschnitte aus Briefen, die Hans Scholl und sein Freund 1942 als Wehrmachtsoldaten im Osten geschrieben hatten, und da wird sehr klar, was Wehrmachtsoldaten gesehen haben.
    STERN    Vieles in solchen Briefen war verschlüsselt, manches nur angedeutet, aber wenn man ein Gespür hatte, dann wusste man, was los war. Man musste ja nur den Gerüchten nachgehen und 1 und 1 zusammenzählen.
    FISCHER    Da komme ich jetzt wieder zu meiner katholischen Vergangenheit. Erzkonservativer Katholizismus, aber nicht regimetreu. In dieser Welt hat die Ermordung der geistig Behinderten eine Riesenrolle gespielt. Und von da ab konnte man eigentlich wissen, wozu dieses Regime bereit und in der Lage war.
    STERN    War das ein Thema in Ihrem familiären Kontext?
    FISCHER    Nein. Ich rede jetzt von dem Dorf bei Stuttgart, in dem ich aufgewachsen bin. Da wusste auch jeder, was in Dachau geschah. Es durfte zwar offiziell nicht darüber geredet werden …
    STERN    Es stand sogar in der Zeitung! Im März 1933, bei der Gründung von Dachau, wurde genau erklärt, wozu ein Konzentrationslager dient. Und jeder Leser verstand: Da kommst du hin, wenn du nicht parierst.
    FISCHER    Über die Frage der Euthanasie kam es sogar zu einer öffentlichen Auseinandersetzung. Das darf man nicht vergessen. Und auch die sogenannte «Reichskristallnacht» fand in aller Öffentlichkeit
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