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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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rauf und runter erzählt, und alle waren «Opfer». Ich brauchte deshalb 2002 auch kein Buch über den «Brand», um mich über die Bombardierungen deutscher Städte aufklären zu lassen, das kannte ich alles schon. Und wenn man sich mal in den einzelnen Bundesländern umschaut, wie viele offizielle «Erinnerungsorte» für die Vertriebenen es dort gibt, allesamt finanziert aus Steuergeldern, dann kann man nicht behaupten, dass da irgend etwas ausgeklammert oder verschwiegen oder nicht anerkannt worden wäre, das ist alles dummes Zeug. Eine mehrbändige, von der Bundesregierung finanzierte wissenschaftliche Dokumentation über die Vertreibung einschließlich der dabei begangenen Verbrechen liegt seit Jahrzehnten vor. Nein, hier herrscht wahrlich kein Mangel. Man muss doch einmal die Gegenfrage stellen: Was wäre denn passiert, wenn die Deutschen geblieben wären, zum Beispiel in Polen? Hat schon mal einer diese Frage gestellt?
    STERN    Von welchem Standpunkt?
    FISCHER    Vom Standpunkt der Rache aus. Wie wäre denn die Rache ausgefallen? Jedes Mal, wenn ich in Polen bin, werde ich damit konfrontiert, was die Deutschen dort angerichtet haben. Da wurden ganze Universitätskollegien liquidiert, nur weil die Professoren Polen waren und zur Elite gehörten. Und nicht irgendwann, sondern ziemlich bald nach dem Einmarsch, die Listen waren vorbereitet. Solche Geschichten werden hier bei uns weitgehend verdrängt. Bevor einer über die Zerstörung deutscher Städte klagt, sollte er mal nach Warschau fahren. Und bevor wir über die Rückgabe deutscher Kulturgüter verhandeln, sollten wir mal die Polen fragen, was dort willentlich und wissentlich an unschätzbaren Werten polnischer Nationalkultur für immer zerstört wurde. Das wäre doch eine biblische Rache geworden! Diejenigen, die Blut an den Händen hatten unter den sogenannten «Volksdeutschen», sind die Ersten gewesen, die sich mit der Wehrmacht nach Westen absetzten, weil sie wussten, dass sie keine Gnade zu erwarten hatten. Die Rache hat leider meistens diejenigen getroffen, die meinten, ihnen passiere schon nichts, weil sie sich nichts vorzuwerfen hatten.
    STERN    Sie haben die Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge mit Recht eine große Leistung der Bundesrepublik genannt. Das wichtigste Instrument dabei war der Lastenausgleich, der für eine angemessene materielle Entschädigung sorgte. Deswegen konnte ich die Ostdeutschen gut verstehen, die sich bei der Wiedervereinigung auf dieses Modell beriefen und ebenfalls einen Ausgleich forderten.
    FISCHER    Ein völlig legitimer Anspruch der Bewohner der ehemaligen DDR, die den Krieg ja nicht mehr verloren hatten als die Westdeutschen.
    STERN    Aber mehr bezahlt haben.
    FISCHER    Viel mehr bezahlt. Dass sie erst Jahrzehnte nach den Westdeutschen in den Genuss der Freiheit kamen, hat die Rechnung für sie nur noch bitterer gemacht.
    STERN    Man darf die Parallele zwischen der Integration der Heimatvertriebenen, die in den fünfziger und sechziger Jahren in die westdeutsche Gesellschaft hineinwuchsen, und dem späteren Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes natürlich nicht überstrapazieren. Beide Male spielte das Geld eine herausragende Rolle. Aber die Vertriebenen wurden schließlich wirklich aus ihrer Heimat rausgeworfen. Die Bürger der DDR, die mir immer sehr leid getan haben, weil sie den Krieg doppelt bezahlen mussten, konnten wenigstens bleiben, wo sie in den letzten vierzig Jahren gelebt hatten.
    FISCHER    Das sehe ich genau so. Den Verlust von Heimat und all die furchtbaren Dinge, die bei der Vertreibung passiert sind, kann man mit noch so viel Geld nicht ausgleichen. – Was mich interessiert, Fritz: Hat denn eigentlich das Thema Vertreibung nach dem Krieg bei Ihnen in Amerika eine Rolle gespielt? Ist in Emigranten-Kreisen überhaupt darüber gesprochen worden?
    STERN    Im Großen und Ganzen wohl nicht. Aber es gab bedeutende Ausnahmen, wie zum Beispiel den Streit zwischen zwei deutschen Nobelpreisträgern, die ihr Land verlassen mussten, Albert Einstein und James Franck. Während Franck sich für die Unterstützung hungernder Deutscher einsetzte, lehnte Einstein jegliche Hilfe für das «Land der Massenmörder» entschieden ab. Übrigens erinnert mich das daran, dass meine Eltern ihren Freunden nach dem Krieg sofort Care-Pakete geschickt haben und ich selbst als junger Mann Hilfspakete an vertriebene sudetendeutsche Freunde, die nach Deutschland
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