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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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Heimatmensch, aber ich muss zugeben, dass, je älter ich werde, ich mich wieder stärker nach Hohenlohe zurücksehne. Die Landschaft bringt etwas zum Klingen in mir. Politisch finde ich es nach wie vor eine der ganz großen Leistungen der alten Bundesrepublik, 12 bis 14 Millionen Menschen aus dem Osten integriert zu haben. Man muss das allerdings vor dem Hintergrund der gewaltigen Verbrechen sehen, die Deutschland begangen hat, nur so wird verstehbar, dass dieser Prozess von den Deutschen akzeptiert wurde. Heute ist das überhaupt kein Thema mehr, wenn wir mal von den Vertriebenenverbänden absehen, deren Mitglieder aber genauso wenig vertrieben wurden wie ich – jedenfalls die, die unter 70 sind.
    STERN    Eine Riesenleistung, zweifellos, aber auch nützlich für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg.
    FISCHER    Das waren zum Teil hoch qualifizierte Leute, die nur eines wollten: den Kopf wieder über die Wasserlinie kriegen. Wenn ich heute in China unterwegs bin, sehe ich immer die Bundesrepublik der fünfziger Jahre vor mir – und nicht zuletzt die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Umso schlimmer ist es, dass sie identifiziert werden mit Erika Steinbach, deren Vater aus Hanau stammt und im Krieg als Feldwebel der Besatzungsarmee nach Westpreußen, also in das okkupierte und gequälte Polen kam. Keine Heimatvertriebene, aber Präsidentin dieses Vereins.
    STERN    Heimat, das sind allzu oft auch verklärte Erinnerungen. Und das verführt dann leicht zu der Frage, wer hat mir meine Heimat «gestohlen»? Was haben damals die Heimatvertriebenen falsch gemacht, dass sie politisch dieses schlechte Image bekamen?
    FISCHER    Die übergroße Mehrheit hat gar nichts falsch gemacht, wenn man die Menschen und nicht die Organisation nimmt. Sie hatten teilweise Furchtbares erlebt und versuchten, neue Wurzeln zu schlagen. Der BdV war aber ganz offensichtlich durchsetzt mit ehemaligen Nazis. Ich saß neulich mit meinem Sohn zusammen, 33 Jahre alt, und wir haben darüber geredet. Er hat mittlerweile selbst zwei Töchter. «Wenn sie mich zurückschicken würden», sagte ich zu ihm, «wäre das grotesk. Wenn sie dich zurückschicken würden, wäre es furchtbar, und wenn sie deine Töchter zurückschicken würden, wäre es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.» Das alles ist doch völlig absurd. Inzwischen ist es ja so, dass sich nicht einmal mehr die übergroße Mehrheit der Heimatvertriebenen selbst oder ihre Nachkommen für den ganzen Zinnober der Verbände interessieren.
    STERN    Aber sie waren natürlich ein politischer Faktor in der frühen Bundesrepublik, und was für einer!
    FISCHER    Und was für einer! Sind sie heute nicht mehr.
    STERN    Nein. Was der ganzen Debatte mit den Heimatvertriebenen einen so unangenehmen Beigeschmack gab, war deren fortwährende Betonung ihrer Opferrolle. Als sie Anfang der siebziger Jahre einsehen mussten, dass sie mit ihren Forderungen nach Grenzkorrekturen in Europa keine Verbündeten mehr finden würden, zogen sie sich in den Schmollwinkel zurück. Man hätte nicht verschweigen sollen, wie viel Unrecht den Einzelnen widerfahren ist und wie entsetzlich die Umstände der Vertreibung häufig gewesen sind. Das hartnäckige Verweigern der Anerkennung der bestehenden Grenzen war insgesamt aber ein Störfaktor für den Versöhnungsprozess. Wenn die Vertriebenen sich angemessen klar gemacht hätten, dass der Verlust ihrer Gebiete das Resultat eines verbrecherischen deutschen Überfalls war, dann hätten sie sich vielleicht etwas mehr zurückgehalten und das rein Menschliche mehr betont.
    FISCHER    Ich kann diese ganze Opfer- und Unrechtsdebatte, die ja im Zuge der Wiedervereinigung noch einmal ganz vehement aufgebrochen ist, wirklich nicht nachvollziehen. Als Kind in den fünfziger Jahren war ich nämlich nur mit deutschen «Opfern» konfrontiert worden.
    STERN    Das verstehe ich nicht.
    FISCHER    Deutsche Täter gab es für mich erst viel später. Auf dem Gymnasium wurde uns der Film «Hitler – Mein Kampf» von Erwin Leiser gezeigt. Dann Eichmann, dann der Auschwitzprozess – da erst wurde ich mit den deutschen Verbrechen konfrontiert, in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Nach dem Film von Leiser war ich tief schockiert und verstört. Während meiner Kindheit war es doch dauernd nur um die Frage gegangen, wer lebt noch, wer ist gestorben, wo sind die Freunde, die von früher erzählen. Wisst ihr noch, damals? Dann wurden die Vertreibungsverbrechen
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