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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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von der Sache mit Rühl. Als sie nach Berlin zog, in den Bezirk Schöneberg, suchte auch er sich dort eine Wohnung.
    Manchmal, wenn N. ins Quasimodo ging oder in die Ruine, saß dort, weit hinten in einer ruhigen Ecke, Gunnar Reich, der inzwischen einen Bart trug, deshalb war er kaum wiederzuerkennen, und schaute sie an. Nach einer Weile stand er auf und ging zur Toilette.
    Wegen N. lernte er, ein wenig Gitarre zu spielen. Kurz nacheinander war er Bassist in ein paar schlechten Bands, dann in einer etwas besseren. Er begann zu singen, und stellte fest, dass er Talent zum Songschreiben besaß. Er war Mitte zwanzig, als er zum ersten Mal mit einer Frau schlief, danach mit noch einer, in den folgenden Monaten mit zwei weiteren. Wenn er auf der Bühne stand, strahlte er etwas aus, das den Frauen gefiel. Er schrieb, nach langem Zögern, endlich einen Song über N., einen Song über eine Frau, die man einmal sieht und nicht mehr vergessen kann, der Song wurde ein Hit. Jetzt trat er nicht mehr in kleinen Klubs auf, sondern in mittelgroßen Sälen. In Berlin war es die Neue Welt.
    Als er auf die Bühne kam, sah er, dass N. in der ersten Reihe stand. Während er das Lied sang, ihr Lied, schaute er sie ununterbrochen an. Das war das Mutigste, was er jemals zustande brachte. Aber auch diesmal sprach er sie nicht an.
    Nach dem Konzert betrank er sich, so schwer wie noch nie. Auf dem Nachhauseweg fuhr er mit dem Motorrad, das er sich erst vor ein paar Tagen gekauft hatte, gegen die Berliner Mauer. Er wusste, dass er starb. Dieses Gefühl erschien ihm so vertraut, als ob er schon hundertmal gestorben wäre. Zitterte er? Er dachte an das verrückte Weihnachtsfest, an den Abschied von seinen Eltern, mit denen er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, das tat ihm leid. Dann dachte er an N., und er war glücklich.

3
     
    Doubek fuhr Taxi zu dieser Zeit. Meistens übernahm er die Frühschicht, die um fünf Uhr begann. Er liebte es, der Stadt beim Aufwachen zuzusehen.
    Frühmorgens gingen die Fuhren oft zum Flughafen, obwohl es nach Frankfurt ziemlich teuer war. Die Leute warteten meistens schon auf der Straße, wenn er ankam. Neben ihnen standen Koffer, ihre Hände tasteten nach Handtaschen und Geldbörsen. Sie bemerkten Doubek kaum. Sie schauten auf ihre Uhren, sprachen über das Reiseziel und beruhigten ihre Kinder.
    Hin und wieder stellte Doubek ihnen Fragen, vor allem, wie lange die Reise dauerte. Das war gefährlich, sie würden sich an ihn erinnern. Deshalb schwieg er lieber. Weniger als eine Woche verreiste sowieso niemand, nicht in den Schulferien.
    Er wusste, dass er es nicht zu oft tun durfte. Sonst fiel es auf. So viel, dass ein hohes Risiko sich gelohnt hätte, brachte es nicht ein.
    Wenn die Fahrgäste aus einer der reicheren Gegenden der Stadt kamen, Rosengarten, Kapellenstraße, Rheinufer, hielt er, nachdem er sie abgesetzt hatte, manchmal an einer Telefonzelle und gab Schulz, ohne seinen eigenen Namen zu nennen, die Adresse durch. Schulz hatte, für den Fall, dass es etwas Schweres zu tragen gab, drei oder vier Helfer, die sich untereinander nicht kannten. Schulz setzte sie abwechselnd ein, damit keiner zu viel über ihn wusste und damit er von keinem abhängig war.
    Wenn es eine Alarmanlage gab, ließ er die Finger von der Sache, obwohl er sich mit Alarmanlagen auskannte. Schulz war vorsichtig. Er fuhr nicht mal ein dickes Auto. Nur solche Typen schaffen es, dass sie nie erwischt werden. Solche Typen schaffen es auch, rechtzeitig wieder auszusteigen. Das kannst du nicht ewig machen, sagte Schulz oft. Crime is for boys. Legal life is for men. Doubek mochte diesen relaxten Stil.
    Schulz las auch Todesanzeigen. In den Anzeigen waren hin und wieder die Adresse des Verstorbenen und der Termin der Beerdigung abgedruckt, mit Uhrzeit. Wer tot ist, sagte Schulz, der ist schon mal garantiert nicht zu Hause. Und Witwen schwänzen Beerdigungen fast nie. Er hatte Doubek pro Anruf zehn Prozent der Beute angeboten. Aber so sehr, dass er sich auf seine Abrechnungen verließ, vertraute er Schulz nun auch wieder nicht. Doubek nahm lieber pauschal hundert Mark für jeden Tipp.
    Er rief Schulz nicht nur wegen des Geldes an. Die hundert Mark, von Zeit zu Zeit, waren natürlich ganz nett. Aber er kam zur Not auch ohne diesen Nebenjob über die Runden. Er genoss, dass er Entscheidungen treffen durfte. Entweder er rief Schulz an, dann würde es für diese Leute bei ihrer Heimkehr eine unangenehme Überraschung geben. Oder er ließ es
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