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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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Hoffnungen.
    Sie fuhren zu einer Burg am Rhein, die zu einem Begegnungszentrum und Schullandheim ausgebaut worden war. Am ersten Nachmittag besichtigten sie ein römisches Kastell, was die Schüler mit erwartungsfroher Gelassenheit über sich ergehen ließen. Der Rest des Tages war mit der Verteilung der Betten in den Zimmern ausgefüllt, ein stundenlanges Hin und Her, Geschrei, Palaver. Zwei- oder dreimal wurde Rühl gebeten, einen Streit zu schlichten, aber er zuckte nur mit den Achseln. Entweder wurde so etwas von den Lehrern entschieden, oder die Schüler organisierten es selber. Darum hatten sie gebeten, er hatte zugestimmt, was wollten sie jetzt von ihm.
    Beim Abendessen saßen die Kollegin und er an einem separaten Tisch. Die Herbergseltern trugen Wurst, Käse und Mixed Pickles auf.
    Rühl hätte gern ein Bier getrunken. Aber er wollte kein schlechtes Beispiel geben, also holte er sich eine Flasche Zitronenlimonade und trug seinen Namen in die Liste ein, die neben den Getränkekisten an der Wand klebte. Vier Tage sollte der Aufenthalt dauern, bis zum Donnerstag. Rühl hatte, um nicht in den letzten Kriegstagen noch an die Front geschickt zu werden, als sehr junger Mensch vier Tage in einem Luftschutzbunker verbracht, angeblich verletzt, mit einem dicken Kopfverband, ohne Toilette, das habe ich auch überstanden, sagte er sich. Den Freitag würde er zum Glück frei haben. Er nahm sich vor, Sybille Bär anzurufen und sich für den Freitagabend mit ihr zu verabreden.
    Als er in sein Zimmer eintrat, eigentlich eher eine Kammer, am Ende des Ganges, sah er, dass auf seinem Bett ein Päckchen lag. Es war etwas kleiner als eine Schokoladentafel und sehr bunt. Auf dem Papier klebten bunte Prilblumen. Das Päckchen enthielt eine Musikkassette und einen Brief.
    »Lieber Dr. Rühl! Ich hoffe, die Musik gefällt Ihnen. Seien Sie nicht böse. Sie sind mein Lieblingslehrer. Es war an der Zeit, dass ich auch einmal etwas für Sie tue. N.«
    In den beiden Klassen gab es nur zwei Mädchen, deren Vornamen mit einem »N« begannen, eine Schüchterne, Unscheinbare, Dämliche und eine gazellenhafte, ständig von Jungs umschwärmte Schönheit, obendrein die beste Schülerin des Jahrgangs. Dies hier passte wohl eher zu dem dämlichen Exemplar. Trotzdem war Rühl sicher, dass seine Verehrerin die schöne, kluge N. aus der Unterprima B war. Diese N. gehörte zu der Handvoll Schüler, die bei ihm immer in den vorderen Reihen saß und ihm, bis auf Doubek, konzentriert zuhörten. Kein Wunder, N. war ehrgeizig und stand fast überall auf eins, auch bei Rühl. Neben ihr saßen meistens ein gewisser Benno, unauffällig, faul, aber nicht dumm, und der bei allen Kollegen gefürchtete Doubek, renitent, laut, bösartig, demnächst hoffentlich zum zweiten Mal sitzen geblieben und von der Schule verwiesen. Wenn N. in der Nähe war, betrug Doubek sich allerdings fast mustergültig, in Rühls Stunden tat er so, als lese er in den Schriften von Mao Tse Tung. Beide Jungen waren so offensichtlich in N. verliebt, dass sogar Rühl es bemerkte.
    Der Brief war, wenn man einmal darüber nachdachte, harmlos. Die Abkürzung des Namens, nun, das war ein romantisches Klischee, bei Kleist findet sich das auch, die Marquise von O., eigentlich gab nur dieses Detail dem kleinen Brief eine frivole Note. War es verboten, Geschenke von Schülern entgegenzunehmen? Das hing wahrscheinlich vom Wert des Geschenks ab. Rühl beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wahrscheinlich tat er damit sogar das pädagogisch Richtige. Die Kassette zurückzugeben wäre ein pathetischer Akt gewesen, demütigend für die Schülerin, peinlich für ihn selbst.
    Rühl hörte aus dem Aufenthaltsraum Lachen und das Klirren einer zerberstenden Bierflasche, dann dröhnte die Stimme seiner Kollegin, ein kräftiges, tiefes Alt, fast schon Tenor. Danach war Ruhe. Sie hatten verabredet, dass sie sich die nächtliche Aufsicht teilten, nur im äußersten Notfall würde man sich gegenseitig zu Hilfe rufen. Rühl schlief ein.
    Beim Frühstück stieß er, als er sich an der Theke ein zweites Kännchen Kaffee holte, beinahe mit N. zusammen, die einen Teller mit Käse und Marmelade trug. N. lächelte ihn an.
    Rühl sagte: »Vielen Dank, Sie wissen schon, wofür, das hat mich sehr gefreut.« N. antwortete: »Ich mag Sie, weil Sie kein Angeber sind. Sie durchschauen diese ganze Scheiße. Sie stehen über den Dingen.«
    Rühl spürte, dass er rot wurde. Außerdem bemerkte er, dass sie, nur zwei oder
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