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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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eher unregelmäßig, von Zeit zu Zeit, zitternd. Gunnar Reich musste, was er ärgerlich fand, an das Kriegszittern seines Vaters denken.
    Die Frau war sehr leise, nur ihre Gürtelschnalle, die auf dem Kachelboden lag, klapperte manchmal ein wenig. Sie selber machte kein Geräusch. Ihre Bewegungen wurden nach und nach schneller, zum Schluss noch einmal schneller, dann hielt sie inne, wartete einige Sekunden und zog die Hand aus ihrer Hose wieder heraus. Sie drückte auf den Knopf der Wasserspülung und verließ die Kabine. Gunnar Reich hörte, wie sie sich die Hände wusch, dann hörte er, wie sie ging.
    Wer die Frau war und wie der Rest von ihr aussah, musste sich leicht herausfinden lassen, vor allem mit Hilfe des Gürtels, den er sich genau eingeprägt hatte, ein geflochtener brauner Ledergürtel mit einer Schnalle, die wie ein Schmetterling aussah. Gunnar Reichs Aktionsradius war allerdings auf die Rampe der Produktionshalle und den Weg zur Lagerhalle begrenzt, dafür, irgendwo anders hinzugehen, gab es keinen Grund, zumindest nicht aus Sicht seines Vorarbeiters.
    Die meisten Frauen arbeiteten, soweit er wusste, an den Zuschneidemaschinen, weil zum Zu schneiden nicht viel Kraft erforderlich war. Eine Kantine gab es nicht, jede Abteilung hatte einen kleinen Pausenraum. Mindestens eine Stunde lang überlegte sich Gunnar Reich, welchen Grund es für ihn geben könnte, den Zuschneidemaschinen einen Besuch abzustatten, oder ob es vielleicht eine Alternative gab, zum Beispiel, am Ende der Schicht so schnell wie möglich an den Fabrikausgang zu laufen und dort, vor dem Ausgang, rauchend auf und ab zu gehen, als ob er auf jemanden warte. Er musste das heute klären, morgen konnte die Frau etwas völlig anderes anhaben.
    Dann wurde ihm klar, dass er einfach nur abzuwarten brauchte. Der Weg zu den Toiletten führte über den Hof, der zwischen den beiden Hallen lag, jede Person, die dorthin wollte, musste zwangsläufig an ihm vorbeigehen. Er hatte bisher nur nicht auf diese Leute geachtet. Er musste aufpassen. Er musste, beim Auf- und Abladen, die Augen offen halten.
    Um halb zwölf ging sie über den Hof, Richtung Toiletten. Der Gürtel, der Schmetterling, kein Zweifel.
    Sie war ungefähr in seinem Alter, keine Arbeiterin, das sah er gleich, weil sie einen selbst gestrickten, grobmaschigen Pullover trug und lange, offene Haare hatte, sie musste eine Aushilfe sein, wie er, Schülerin oder vielleicht Studentin. Sie sah gut aus.
    Das war schon seltsam, diese Tatsache fiel ihm immer als Erstes auf, ob eine Frau gut aussah oder mittel oder gar nicht gut, das registrierte er meistens sofort, ganzheitlich, und zwar noch bevor irgendwelche anderen Details den Weg in sein Gehirn fanden. Als sie wieder verschwunden war, hätte er nicht mit Gewissheit sagen können, welche Haarfarbe sie hatte, ob sie größer oder kleiner war als er, ob sie einen großen Busen hatte oder einen kleinen. Er wusste nur, dass sie gut aussah. In diesem Punkt war er sich immerhin sicher.
    Er wartete eine Minute und meldete sich dann ab. Er war diesmal leiser als beim letzten Mal, er drückte die Türklinke besonders langsam und vorsichtig herunter, er verzichtete auch darauf, den Deckel hochzuklappen. Sie war wieder in der letzten Kabine, an der Wand.
    Im weiteren Verlauf des Arbeitstages besuchte sie diesen Ort noch viermal, immer für ziemlich genau fünf Minuten. Entweder war ihr Chef großzügiger als seiner, oder ihr war es egal, wenn Zeit abgezogen wurde. Gunnar Reich folgte ihr kein weiteres Mal. Falls er es getan hätte, wäre er früher oder später aufgefallen, die Witze des Vorarbeiters konnte er sich ausmalen. Außerdem wusste er ja jetzt, was da abging und wie, seine Neugierde war für Erste gestillt. Und er brauchte die letzten beiden Gänge, die er noch auf seinem inoffiziellen Konto guthatte, dringend für sich selber. Das Wissen um die Frau, um ihr Geheimnis, um ihre Leidenschaft, die er mit ihr teilte, der Gedanke an diese Frau, deren Aussehen er sich inzwischen besser eingeprägt hatte, all das machte die beiden letzten Gänge dringend notwendig. Gunnar Reich war sich nicht ganz sicher, aber er hielt es, zum ersten Mal, für möglich, dass er sich verliebt hatte.
    Bis vor ein oder zwei Jahren war er regelmäßig in die Kirche gegangen, bevor er politisch wurde, deshalb fielen ihm Adam und Eva ein, die im Paradies vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten und sich daraufhin erkannten. Sie sahen, dass sie nackt waren, so hieß es wohl. Nun,
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