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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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versuchte, ebenfalls auf dem Droste-Hülshoff-Gymnasium anzukommen, wurde aber abgelehnt und begann eine Banklehre, die er nach kurzer Zeit abbrach.
    Rühls Krankheit dauerte vier Wochen, danach waren ohnehin Ferien. Er wechselte nicht nur die Schule, sondern zog auch an den Stadtrand. Mit Sybille Bär sprach er nur noch einmal kurz am Telefon, sie rief an. Rühl erklärte ihr, dass er den Kontakt zu ihr abbrechen wolle, weil er sich zu sehr schäme, er könne ihr nicht mehr in die Augen schauen. Sie sagte, dass er sich jederzeit bei ihr melden könne, wenn er es sich anders überlege. Sie sei jederzeit dazu bereit, mit ihm zu reden, falls er es wolle. Rühl wollte aber nicht. In dieser Hinsicht war er sich sicher.
    Einige Monate nach dem Vorfall bekam er einen anonymen Drohbrief. Die Buchstaben waren aus einer Zeitung ausgeschnitten, der Text lautete: »Du Schwein wir kriegen dich eines Tages fühl dich nie sicher.« Rühl war der Ansicht, dass der Brief von Doubek kam. Er ging nicht zur Polizei.
    Jahre später, als er bereits, lange vor der üblichen Pensionsgrenze, wegen gesundheitlicher Probleme aus dem Schuldienst ausgeschieden war, legte er, zum ersten Mal, die Kassette ein, die N. ihm geschenkt hatte. Rühl war weißhaarig geworden. Er trug immer noch Anzug und lebte in einer kleinen Eigentumswohnung. Rühl brühte sich einen Tee, öffnete das Fenster, blickte auf den See. Und Rühl hörte »Stairway to Heaven«.

2
     
    Dieses Weihnachtsfest würde Gunnar Reich bis zur letzten Sekunde seines Daseins in Erinnerung bleiben, weil er, während die Familie über dem Gänsebraten saß und sein Vater Geschichten aus dem Krieg erzählte, aufstand, zur Toilette ging und dort heftig masturbierte, obwohl er keine große Lust dazu hatte und dementsprechend lange brauchte. Dies erschien ihm als ein Akt des politischen Protestes gegen die verlogene Harmonie des Festes – die Ehe seiner Eltern war lange schon zerrüttet – und gegen die Lustfeindlichkeit der Gesellschaft.
    Danach ging er an den Tisch zurück, an dem die anderen, seine Eltern, seine beiden Schwestern, die drei noch lebenden Großeltern und eine alleinstehende Tante, inzwischen mit dem Nachtisch beschäftigt waren. Nur an seinem Platz stand immer noch der Teller mit der halb gegessenen, inzwischen erkalteten Gänsekeule, besser gesagt der halb gegessenen halben Gänsekeule, den anderen Teil hatte seine ältere Schwester bekommen. Auf die Frage seines Vaters, wo er so lange geblieben sei, antwortete er, dass er, auf seine Weise, das Gleiche getan habe, was sein Vater mithilfe seiner Kriegsgeschichten tue, er habe sich einen runtergeholt.
    Sein Vater begann, nach dieser Antwort, am ganzen Körper zu zittern. Dieses nervöse Zittern, das mit irgendeinem Kriegserlebnis zusammenhing, überlief ihn immer, wenn er sich aufregte. Er zuckte wie ein Pferd, auf dessen Augen und Nüstern sich Fliegen gesetzt haben. Alle anderen am Tisch schwiegen und sahen seinem Vater beim Zittern zu, bis das Zittern, nach ein oder zwei Minuten, nach und nach verebbte. Dann fragte seine Mutter, mit bemüht heiterer Stimme, ob noch jemand Pudding wolle. Der Vater räusperte sich und sagte, ja, gerne.
    So ging es bei ihnen zu. Lüge und Verdrängung wurden großgeschrieben.
    Gunnar Reich stand kurz vor dem Abitur. In seinen letzten Schulferien arbeitete er in der Waggonfabrik, die von allen so genannt wurde, obwohl dort längst keine Waggons mehr hergestellt wurden, sondern Geschenk- und Einwickelpapiere aller Art. In der Weihnachtszeit druckten sie schon das Papier für Ostern und nahmen, auch wenn es nur für zwei, drei Wochen war, ganz gern ein paar Schüler und Studenten als Aushilfen. Er belud fahrbare Paletten mit Kisten, auf denen lachende Hasen abgebildet waren, danach schob er das Osterpapier von der Produktionshalle etwa fünfzig Meter weit in die Lagerhalle, wo ein Arbeiter und ein Student es wieder abluden.
    In den ersten Tagen testete er aus, wie oft er außerhalb der Pausen zur Toilette gehen durfte, ohne ernsthaften Ärger mit dem Vorarbeiter zu bekommen. Drei- oder viermal pro Tag wurden milde bespottet, schwache Blase, der Bubi. Beim fünften Mal hieß es: So geht’s aber nicht, Kleiner, ab sofort eine Stunde Lohnabzug.
    Viermal reichten ja auch, obwohl Gunnar Reichs persönlicher Rekord bei elfmal lag, aber das war ein extrem heißer Sommertag gewesen, im Schwimmbad. All diese halb nackten Körper um ihn herum und die Hitze und die Umkleidekabinen, wo man jederzeit
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