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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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des Jahrhunderts machte, war seine Fähigkeit, die Dinge von ihrem Ende her zu betrachten. Welche Voraussetzungen sind nötig, um eine humanistische Gesellschaft zu errichten, eine Gesellschaft ohne Unterdrückung, ohne Ungleichheit, ohne Klassen, den Kommunismus also? Die Voraussetzungen einer solchen Gesellschaft kann man wissenschaftlich herausfinden, und wenn man sie kennt, muss man sie schaffen. Dabei wird es Opfer geben, aber diese Opfer werden mehr als aufgewogen durch das Glück der nachfolgenden Generationen. Das ist wahrer Humanismus, ein Humanismus vom Ende her. Das Glück und der Fortschritt der Menschheit haben ihren Preis. Wer ihn nicht zahlen will, der landet zu Recht auf dem Müllhaufen der Geschichte.
    Schulz war ein guter Redner. Er vergeudete sein Talent, fand Doubek. Aus Schulz konnte mal was werden. Wenn er allerdings so weitermachte, würde er trotz seiner Vorsicht früher oder später selber auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.
    Jedenfalls war das ein interessanter gedanklicher Ansatz – die Dinge von ihrem Ende her zu betrachten. Was würde Stalin tun, an Doubeks Stelle?
    In den folgenden Wochen gab er Schulz keinen Tipp. Wenn er ihn in der Mensa traf, wo er manchmal hinging, um Studentinnen kennenzulernen, erzählte er ihm etwas über Rückenschmerzen, er sei dauernd krank, und über neue Schichtpläne, er müsse jetzt immer in der Neustadt herumfahren.
    Nach vier Wochen kam die Ansichtskarte. Sie zeigte einen Tempel. N. schrieb aus Madras, das war in Südindien. Auf der Karte stand nichts Besonderes. Indien ist wahnsinnig interessant, eine super Kultur, die Menschen sind aber leider sehr arm. N. schrieb, wann sie zurückkam, Tag, Flugnummer, Ankunftszeit. Es wäre schön, wenn er sie beide abholen käme, mit seinem Taxi. Falls er zufällig Zeit habe. Das wäre echt schön.
    Sie kamen abends an. Als N. und der Typ durch die Schranke kamen, lächelte N. ihn an, N. war braun geworden und schön wie eine indische Liebesgöttin aus Bronze. Der Typ lächelte nicht, er schlurfte, er roch wie eine indische Sondermüllhalde. Ein gemeinsamer Urlaub ist die Stunde der Wahrheit, dachte Doubek. Europe is for boys, third world is for men.
    Im Taxi redete fast nur N., Doubek beschränkte sich auf Verständnisfragen und Ergänzungen. Oder er wiederholte einfach, in leicht veränderter Formulierung, was N. gesagt hatte.
    Doubek hatte Schulz vor zwei Stunden angerufen. Du, endlich habe ich wieder was für dich. Es lohnt sich. Eine Villa. Die sind aber nur bis morgen früh weg. Du musst dich beeilen.
    Als sie die Villa erreichten, spürte Doubek, dass Schulz schon da war. Er glaubte, hinter den Fenstern das schwache Glimmen einer Taschenlampe zu erkennen.
    Dass der Zeitplan aufgehen würde, war alles andere als sicher gewesen. Doubek kannte ungefähr den Rhythmus von Schulz, aber der hätte natürlich trotzdem schon längst weg sein können, oder noch lange nicht da. Das war Schicksal. Wenn es nicht klappte, dann klappte es eben nicht, dann würde er sich eben ein anderes Mal etwas anderes einfallen lassen. Schulz war allerdings ausgehungert, der hatte lange nichts mehr gemacht. Deswegen rechnete Doubek damit, dass er so schnell wie möglich zupacken würde, obwohl er in dieser kurzen Zeit sehr wahrscheinlich keinen zweiten Mann organisieren konnte. Und so war es offenbar auch.
    Er holte die beiden Rucksäcke aus dem Kofferraum und verabschiedete sich von N. mit einem Kuss auf die Wange. Er versprach, demnächst einmal anzurufen. Ihren Typen beachtete er gar nicht. N. wollte bezahlen. Doubek winkte ab. Lad mich einfach mal auf ein Bier ein, wenn’s passt, sagte er. Dann stieg er ein, schaltete das Taxilicht aus und drehte langsam eine Runde.
    Es konnte jetzt alles Mögliche passieren, genau wie bei einer Revolution. Irgendein Ereignis setzt die Kettenreaktion in Gang. Es kann ein Streik sein, eine militärische Niederlage, der Tod einer wichtigen Persönlichkeit, alles Mögliche. Etwas passiert, dieses Etwas bringt die gesellschaftlichen Verhältnisse, die scheinbar stabil sind, ins Rutschen. Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine.
    Als er, nach etwa zehn Minuten, zu dem Haus zurückkam, bog er, bevor er gesehen werden konnte, in eine Nebenstraße ab und fand dort einen Parkplatz. Er musste vorsichtig sein. Doubek stand hinter einem Baum, in sicherer Entfernung, als der Polizeiwagen vor der Villa hielt. Zwei Polizisten stiegen aus, ein älterer und ein junger. Das Gartentor war
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