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Gefluesterte Worte

Gefluesterte Worte

Titel: Gefluesterte Worte
Autoren: Carmen Sylva
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glaubt jeden Augenblick, ihr auf der Spur zu sein, und in wenig Jahren wird doch all ihre Erkenntnis über den Haufen geworfen, und alles liegt am Boden was doch aufgerichtet beinahe schon zum Glaubensartikel erhoben war. Man darf doch höchstens sagen: Mir scheint es so, ich denke das, ich empfinde als ob meine Auffassung berechtigt wäre, das ist schon viel gewagt. Allerdings gäbe es keine Märtyrer, wenn nicht in einem die Überzeugung stärker wäre als die ganze umgebende Welt. Aber sind Märtyrer so sehr notwendig in einer vollkommen gebildeten duldsamen Welt? Es ist doch nur die Roheit der Umgebung, die Märtyrer schafft; wären alle gleich gebildet, so würden alle allen zuhören können und sich fragen, ob nicht ein Körnchen Erkenntnis in jeder Auffassung schlummert. Gebildet sein, heißt durchaus nicht viel wissen; denn kein Mensch weiß viel, wenn er sich mit der Unendlichkeit des zu Wissenden vergleicht. Aber gebildet sein, heißt allen Meinungenzuhören können und sich fragen, ob nicht ein Körnchen Erkenntnis in jeder Auffassung schlummert. Gebildet sein, heißt durchaus nicht viel wissen: denn kein Mensch weiß viel, wenn er sich mit der Unendlichkeit des zu Wissenden vergleicht. Aber gebildet sein, heißt allen Meinungen zuhören können und aus jeder das Körnchen Erkenntnis sichten, das darin enthalten, ob auch die Ausdrucksweise zuweilen dunkel, ob auch ein geduldiges Tasten dahinter liegt, und noch nicht leuchtende Einsicht.
    Was ist denn leuchtende Einsicht? Das was den meisten oder den wenigsten als solche erscheint? Das was die Zeitgenossen erschüttert, oder das, was sich langsam Bahn bricht, wenn der Suchende schon längst Staub ist und beinahe vergessen?
    Man denke sich eine Gesellschaft, in welcher kein Streit mehr möglich, weil jeder bereit ist, den andern anzuhören und seine Meinung gelten zu lassen, weil die Handlungen eines jeden vom Standpunkte seiner Vergangenheit und Erbschaften aus beurteilt würde, und weil jeder so tief bescheiden wäre, daß er es für möglich hielte sich geirrt zu haben und sich noch sehr oft zu irren. Nicht allen Eiferern wird es so gutwie Paulus, daß sie von blendender Klarheit umleuchtet werden und daß sie für wahr halten, was sie vorher verfluchten und verfolgten und daß diese Wahrheit noch von andern anerkannt wird, und sie nicht stracks auf dem Scheiterhaufen ihre Erkenntnis büßen müssen.
    Es ist eine große Unselbständigkeit in den Menschen, daß sie alle nachbeten müssen, irgend einen Götzen sich schaffen, irgend einen Fetisch aufrichten, sei es Mensch oder Stein, oder Licht oder Wärme oder ihre eignen Toten, oder was es auch immer sei; sie wollen anbeten, und in ihrer Anbetung nicht gestört werden. Sie wollen hören, daß sie Recht haben von irgend jemand, der ihnen zeitweilig als Autorität erscheint, und mit dessen Überzeugung sie schlafen können. Ja man findet meistens den größten Eifer da, wo nachgebetet wird, ohne Verstand, ohne eignes Denken, ohne Erkenntnis, sondern nur, weil der Apostel sympathisch gewesen ist. Das ist das Unglück vieler Frauen in Religion, nochmehr aber in Politik, daß sie irgendeinen Apostel haben und von dem nicht loskönnen oder wollen, nur weil er einmal sie erschüttert hat, oder eine Saite hat anklingen machen, die lange weiter klingt. Nun wollen sie alle Menschen mit demselbenTon beglücken, und begreifen nicht, daß vieler Ohr für denselben verschlossen ist.
    Einige Menschen wollen zur Mütterlichkeit in der Welt beten und nennen es Jungfrau Maria und Mutter Gottes, laß sie doch! es ist ein liebevolles und natürliches Gefühl einer kindlichen Seele, sich an den Inbegriff, an das Symbol aller Mütterlichkeit zu wenden, da ihm das Mütterliche als das einzig anbetungswürdige auf der Erde erschienen ist, der andre will die reine Vernunft walten lassen, und gar nicht beten, lebt aber so fromm und so einfältig gottesfürchtig wie der Betende. Laß ihn doch. Bete, wenn es dir ein Trost ist, dein Herz dem unsichtbaren Höchsten vertraut zu machen, bete nicht wenn es dir lieber ist, an die Unabwendbarkeit aller Fügungen zu glauben. Der eine muß einen persönlichen Gott haben, der andre einen viel unbegreiflicheren, den er nicht fassen kann, weil er eben die ganze Welt in sich begreift, jeder hat das Recht zu denken und noch mehr zu empfinden wie er kann. Gott duldet ihn ja! Wie solltest du ihn verachten? Die einen glauben gesund zu werden, wenn man für sie betet, weil sie gesehen haben, daß kein
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