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Gefluesterte Worte

Gefluesterte Worte

Titel: Gefluesterte Worte
Autoren: Carmen Sylva
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gemacht!
     
     

Duldsamkeit
    Du rühmst dich, ein Christ zu sein, ein törichter Ruhm, denn du bist es noch nie gewesen, trotz des Namens den du trägst, trotz all der schönen Lehren die du auswendig gelernt hast, aber ein Christ bist du nicht, solange du nicht gelernt hast duldsam zu sein. Dir ist so vieles ein Greuel das du anhören mußt, ja das Christentum selber ist dir verleidet, durch all die Heuchelei mit der es so häufig umgeben und verunstaltet wird. Du siehst, daß es mit viel Heidentum verquickt worden ist, aber bedenkst nicht, daß es, duldsamer als du, sich dem vorhandenen Heidentum anpassen mußte, um sich Bahn zu brechen und überhaupt verstanden zu werden. Der Missionar muß ja auch zuerst die Sprache lernen, in welcher er das Christentum und die Civilisation predigen will, sonst kann er gar keinen Eingang finden.
    Du aber willst, man soll deine Sprachereden und keine andre. Wer gibt dir denn das Recht soviel zu verlangen und so unduldsam zu sein? Wer gibt dir das Recht zu verlangen, die Menschen sollen so denken wie du? Sie gelangen auf anderm Wege genau zu demselben Schlusse, aber sie wollen ihre eignen Wege gehen, gerade so wie du. Sie wollen nicht geführt sein, sondern selbst finden. Was tut es dir, daß sie anders reden, daß sie anders empfinden als du, daß sie Wege einschlagen die dir fremd sind? Du willst sie durchaus in die von dir als gut erkannten Bahnen hineinzwingen, da du ihr Glück dort allein erkennst. Aber, liebe Seele, du gehst ja auch deine eignen Bahnen, und willst von niemandem geführt sein, von niemandem geknechtet, von niemandem bevormundet, du hältst dich für männlich genug, um deinen eignen Dornenpfad und deine eignen Abgründe zu beschreiten. Du trägst dem Schädelbau des andern nicht Rechnung, nicht seiner Vergangenheit, nicht den Eltern, denen er entsprungen ist, nicht den Gewohnheiten, die ihm vielleicht heilig und lieb sind, weil seine Eltern sie gehabt, und die dir kindisch oder unleidlich vorkommen, bloß weil du anders gewohnt bist. Der Weg zumHimmel ist für uns so breit wie die ganze Erde, es ist kein Plätzchen so klein und unscheinbar, daß darauf nicht einer der vielen Himmelspfade hinliefe. Jeder ist gut, wenn er nur steigt, manche steigen aber so unmerklich, daß du sie gar nicht siehst. Manche gehen so steil, daß sie vor deinem Blick verschwinden. Und derjenige, den du belehren möchtest, ist vielleicht schon viel höher als du, nur kannst du ihn mit dem Blick nicht verfolgen, und hältst deshalb seinen Weg für den falschen.
    Aber liebe Seele, du hast dir noch nicht einmal die Mühe gegeben, genau hinzusehen, sondern hast gleich verurteilt, was du nicht begreifen konntest. Du bist wie der Stier mit dem roten Tuche gewesen, verrannt in deine eignen Meinungen, und hast die andern umgestoßen und über den Haufen rennen wollen, bloß weil ihre Farbe dir nicht gefiel. Die einen legen Trauerkleider an, wenn sie einen geliebten Menschen verlieren, die andern erklären das für gottlos, und ziehen Feierkleider an, und weinen nicht, weil sie sich mitfreuen wollen, daß ihr Liebster nun in den Himmel eingegangen ist.
    Die einen beten für die armen Seelen ihrerAbgeschiedenen, die sie bescheidener als die andern, nicht direkt im Himmel zu suchen wagen, weil sie ihre Fehler und Gebrechen genau kannten. Die andern möchten ihre Toten bitten für sie zu beten. Die einen jammern über unsre große Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit, die andern wollen uns als reine Engel sehen, gerecht und fleckenlos. Wer hat Recht? Wer sieht die Wahrheit? Jeder will für die Wahrheit einstehen, und sich sogar opfern für die Wahrheit.
    Aber die Frage des Pilatus war nicht so töricht und nicht so gottlos als sie Christi Himmelsgestalt gegenüber uns nach Jahrhunderten erscheint. Was ist Wahrheit! Man kann nicht verlangen, daß alle alles für wahr halten, was sich ihrem Begriffsvermögen vollkommen entzieht, und da kannst du mit keinem Eifern erreichen, daß deine Wahrheit anderen sofort auch Wahrheit sein soll. Die einen glauben an Gespenster, die andern haben sogar Erscheinungen und Gespenster oder was wir so nennen gesehen, noch andere lachen sie aus und finden sich ungeheuer klug, weil sie über etwas lachen, das sie nicht beurteilen können. Wir können höchstens von Überzeugungen undMeinungen sprechen, von der Wahrheit niemals, da wir weder Augen noch Ohren noch irgend welche Sinne haben, um sie zu vernehmen und schwören zu können: Das ist sie! Die Wissenschaft
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