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Gefahrliches Vermachtnis

Gefahrliches Vermachtnis

Titel: Gefahrliches Vermachtnis
Autoren: Richards Emilie
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hatte.
    Diese Erinnerung schnürte ihr unerwartet die Kehle zu. Der Tod ihrer Großmutter hatte sie zwar nicht überrascht, aber sie war trotzdem nicht darauf vorbereitet. Wie hätte sie auch ahnen können, dass mit Aurore ein großes Stück ihrer eigenen Identität verschwinden würde? Aurore Gerritsen hatte Dawns Leben geprägt.
    Ein anderer Teil von Dawn war schon mit dem Tod ihres Onkels verschwunden. Im Radio war Hugh Gerritsens Tod nur am Rande erwähnt worden; wie eine Nachricht von vorgestern. Doch für Dawn war er noch sehr präsent. Ihr Onkel galt als umstrittene Persönlichkeit in Louisiana; ein Mann, der all die Tugenden praktizierte, die die katholische Kirche predigte. Onkel Hugh war der Mann, der ihre guten Seiten erkannt und ihr beigebracht hatte, sie ebenso zu sehen.
    Zwei Tode innerhalb von zwei Jahren. Die einzigen Gerritsens, die sie je verstanden hatten, waren nun fort. Wer blieb nun übrig? Wer würde sie nun bedingungslos lieben? Sie drehte das Radio auf und zwang sich, eine Nummer von Smokey Robinson and The Miracles mitzusingen.
    Eine Stunde später überquerte sie die letzte Brücke. Die Inselwar alles andere als elegant, aber die Luft auf Grand Isle war so frisch wie in den Bergen und der Sand so fein wie Puderzucker. Jeden Sommer hatte Dawn hier Aurore Gesellschaft geleistet. Und Aurore hatte ihr jeden Sommer die Familiengeschichte der Gerritsens erzählt.
    Heute war es windig und die Brandung gewaltig. Trotzdem ließen sich die Angler nicht abschrecken. Orkan Betsy zog von Florida herüber, aber noch glaubte niemand, dass er diesen Teil Louisianas wirklich heimsuchen würde. Falls doch, würden die Inselbewohner ihre Häuser verriegeln, alle Habseligkeiten in Autos verladen und zurückkehren, noch bevor die Evakuierung wieder aufgehoben wäre.
    Die Straße, die zum Cottage der Gerritsens führte, war mit einer frischen Ladung Austernschalen aufgeschüttet worden. Das Cottage selbst wirkte wie eine Insel. Aus wettergegerbten Zypressen im traditionellen kreolischen Stil erbaut und umgeben von wild wachsendem Oleander, Jasmin und Myrten, schmiegte es sich in die Landschaft wie die knorrigen alten Wassereichen, die es umgaben. Selbst der von ihrer Großmutter entworfene Anbau sah aus, als wäre er schon immer dort gewesen.
    Dawn bemerkte die frischen Spurrillen und fragte sich, ob ihre Eltern schon eingetroffen waren. Sie hatte sie weder aus London noch vom Flughafen aus angerufen, weil sie sicher war, dass sie von ihr erwartet hätten, gemeinsam mit ihnen nach Grand Isle zu fahren. Doch Dawn benötigte Zeit, um sich an die Rückkehr nach Louisiana zu gewöhnen. Sie war jetzt dreiundzwanzig und zu alt, um sich von ihrer Familie vereinnahmen zu lassen. Deshalb brauchte sie diese Extrazeit, um sich zu wappnen.
    Als sie vor dem Haus ankam, entdeckte sie einen Karmann Ghia mit kalifornischem Kennzeichen unter den Bäumen. Sie wunderte sich, wer von so weit her zur Testamentseröffnung ihrer Großmutter gekommen war. Gab es einen Gerritsen oder einen entfernten Le Danois, der schon immer irgendwo im Hintergrund gelauert hatte?
    Entschlossen parkte sie ihren gemieteten Pontiac neben dem kleinen Cabrio. Dann zog sie ihren Regenmantel an und setzte ihren breitkrempigen John-Lennon-Hut auf. Das Dach des Cabrios war geschlossen. Dawn schaute durch die regennasse Scheibe ins Innere des Wagens. Das Auto gehörte einem Mann. Die Sonnenbrille auf dem Armaturenbrett sah aus wie eine Pilotenbrille, und auf dem Rücksitz lagen eine gemusterte Krawatte und eine Brieftasche.
    Sie wickelte den Regenmantel noch enger um sich. Mary Quant hatte ihn wohl eher für den kühlen Londoner Regen und nicht für die Sommerhitze Louisianas entworfen. Es war Dawn aber egal, ob sie sich darin fast totschwitzte. Ihr Blick wanderte über das Autodach durch Oleander- und Jasminbüsche zur Veranda. Dort stand ein Mann, von dem sie angenommen hatte, dass sie ihn nie mehr wiedersehen würde. Er beobachtete sie.
    Obwohl der Regen in Strömen über ihre Stiefel lief, bewegte Dawn sich keinen Millimeter vom Fleck. Sie fragte sich, ob sie ihre Großmutter jemals wirklich gekannt hatte.
    Ben Townsend verließ die Veranda. Der Regen durchnässte sein Hemd, die dunkle Hose und sein sonnengesträhntes Haar. Er hatte sich nicht verändert. Dawns Blicke glitten über seine breiten Schultern, die schmalen Hüften und die langen Beine. Sie zuckte nicht mit der Wimper, als er näher kam. Die Kunst, Gefühle zu unterdrücken, hatte sie seit
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