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Gefährliche Begierde

Gefährliche Begierde

Titel: Gefährliche Begierde
Autoren: Tess Gerritsen
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einem edlen grau-weiß gestrichen. Es wirkte nun dezenter und unauffälliger, wie eine verblasste Schönheit. Fast sehnte Chase sich nach dem alten Hochzeitstortengelb.
    Er parkte seinen Wagen, nahm seinen Koffer aus dem Kofferraum und ging die Auffahrt hinauf. Noch bevor er die Verandatreppen erreicht hatte, wurde die Tür von innen geöffnet, und Evelyn eilte ihm entgegen.
    »Chase!« rief sie. »Oh, Chase, du bist da. Gott sei Dank, dass du da bist.«
    Sie fiel ihm in die Arme. Er drückte sie automatisch an sich und fühlte ihren zitternden Körper und die Wärme ihres Atems an seinem Hals. Sollte sie sich ruhig so lange an ihn klammern, wie es ihr gut tat.
    Schließlich löste sie sich von ihm, um ihn anzusehen. Ihre leuchtenden grünen Augen waren noch immer bemerkenswert. Das schulterlange, honigblonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Nase stach rot aus ihrem verquollenen Gesicht hervor. Sie hatte wohl versucht, sie mit Make-up abzudecken. An ihren Nasenflügeln klebten Reste eines pinkfarbenen Puders und auf ihren Wangen hatte die Wimperntusche schmutzige Spuren hinterlassen. Er konnte es kaum fassen, dass das seine sonst immer so makellos zurecht gemachte Schwägerin sein sollte. War es denn möglich, dass sie wirklich in Trauer war?
    »Ich wusste, dass du kommen würdest«, flüsterte sie.
    »Ich bin gleich losgefahren, nachdem du angerufen hast.«
    »Danke, Chase. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden sollen …« Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn. »Armer Kerl, du musst erschöpft sein. Komm rein, ich bringe dir einen Kaffee.«
    Als sie die Eingangshalle betraten, war es, als ob er in seine Kindheit zurückgekehrt wäre, so wenig hatte sich verändert. Dieselben Eichenholzböden, dasselbe Licht, dieselben Gerüche. Er dachte fast, dass er, falls er sich umgedreht und durch die Tür ins Wohnzimmer hinein gesehen hätte, seine Mutter konzentriert arbeitend an ihrem Schreibtisch erblickt hätte. Die alte Dame benutzte keine Schreibmaschine; sie hatte zu Recht geglaubt, dass, wenn eine Kolumne nur saftig genug war, der Verleger sie auch auf Suaheli akzeptiert hätte. Und dann kam heraus, dass der Verleger nicht nur ihre Kolumnen genommen hatte, sondern sie gleich mit dazu. Alles in allem war es eine sehr pragmatische Ehe. Und das Maschinenschreiben hatte seine Mutter nie gelernt.
    »Hallo, Onkel Chase.«
    Chase schaute auf und sah einen jungen Mann und eine junge Frau am oberen Ende der Treppe stehen. Das konnten unmöglich die Zwillinge sein! Erstaunt betrachtete er das Pärchen, das die Stufen hinunter kam. Phillip ging voran. Das letzte Mal, als er seinen Neffen und seine Nichte gesehen hatte, waren sie linkische Halbwüchsige gewesen, zu denen die großen Füße noch nicht so richtig passten. Jetzt waren beide groß, blond und schlank, aber da endete ihre Ähnlichkeit auch schon. Phillip bewegte sich mit der geschmeidigen Sicherheit eines Tänzers, ein eleganter Fred Astaire mit seiner Partnerin – wenngleich die junge Frau nichts von einer Ginger Rogers hatte. Die, die da hinter seinem Neffen herunter kam, hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Pferd.
    »Ich kann nicht glauben, dass das Cassie und Phillip sein sollen«, rief Chase.
    »Du warst zu lange weg«, erwiderte Evelyn.
    Phillip ging auf Chase zu und schüttelte ihm die Hand, distanziert, wie ein Fremder. Seine Hand war schmal und fein wie die eines Gentleman. Er besaß die aristokratische Prägung seiner Mutter – gerade Nase, fein gemeißelte Wangenknochen, grüne Augen. »Onkel Chase«, sagte er düster. »Das ist ein furchtbarer Anlass, nach Hause zurückzukommen, aber ich bin froh, dass du da bist.«
    Chase heftete seinen Blick auf Cassie. Als er seine Nichte zum letzten Mal gesehen hatte, war sie ein lebhaftes kleines Äffchen mit einem schier unendlichen Vorrat an Fragen gewesen. Er konnte kaum glauben, dass sie zu dieser verdrießlichen jungen Frau herangewachsen war. Konnte die Trauer diese Veränderung verursacht haben? Ihr schlaffes Haar war so straff nach hinten gebunden, dass es schien, als ob ihr Gesicht aus einer Ansammlung hervorspringender Kanten bestand; einer großen Nase, Hasenzähnen und einer quadratischen Stirn, die sie nicht mal unter einem Pony versteckte. Nur in ihren Augen fanden sich noch Spuren der Zehnjährigen. Sie schauten ihn direkt an und zeigten ihre scharfe Intelligenz.
    »Hallo, Onkel Chase«, begrüßte sie ihn in einem auffallend geschäftlichen Ton,
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