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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt
Autoren: Andreas Altmann
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und besorgte sich ein Wohnmobil. Um mobil den Kontinent zu durchforsten. Er wollte sich bewegen. Und wieder stillstehen. Und wieder bewegen. Shane hatte so vieles verstanden.
    Der Mann ist eines meiner Vorbilder. Damit ich rechtzeitig packe und nicht im Treibsand der Wiederholung versinke. Aber nicht das trostlose Wetter über Nordirland verjagt mich, auch nicht die Furcht vor einer Autobombe. Seit ein paar Jahren peitscht mich eine verbale Stinkbombe nach draußen. Sie ist das Zünglein an der Waage, die letzte Lunte, die fehlt, um mich loszueisen von der Heimat, um das Gesetz der Erdanziehung mit Rigorosität außer Kraft zu setzen: wenn mir das Unwort »Spaß« zu oft begegnet, ja, mir am Ende jeder zweiten Mail »viel Spaß« gewünscht wird. Die vier Buchstaben lösen eine Gefühlsallergie in mir aus. Weil es nicht viele andere Laute gibt, die den Verdacht aufkommen lassen, dass ich mich schon wieder zu lange im Reich des Lauwarmen befinde. Umzingelt von Lauwarmen (und Sprachbehinderten), denen nichts anderes mehr einfällt, als anderen – und sich, so ist zu vermuten – Spaß zu wünschen. Mein Leben als Spaßkanone, als grinning idiot , als 08/15-Zweibeiner, der von nichts anderem mehr träumt, als zur Großfamilie der Spaßvögel zu gehören.
    Das Deprimierendste: die Mail eines Zeitgenossen, der weiß, dass ich mich in Marsch setze und mir für die Reise – ja, ich will in Tränen ausbrechen – »superviel Spaß« wünscht. Warum wünscht mir der Einfaltspinsel nicht Intensität, nicht einen thrill nach dem anderen? Oder blitzgescheite Gedanken? Oder Geldkisten? Oder wahnsinnigen Sex? Oder erschütternde Begegnungen? Oder wilde Freuden? Oder das Glück der Hingabe? Oder die schönsten Himmelsfarben? Oder Zauber? Oder Glücksmomente der Erkenntnis? Oder die Tiefen der Trauer? Der Einsamkeit? Der Mutlosigkeit? Der Sinnlosigkeit? Oder alles zusammen? Warum soll ich – wie er – nur als Flachkopf, als eindimensionaler Zombie, der Welt begegnen? Warum darf nichts anderes mein Innerstes bewegen als die Schmalkost spaßiger Dünnmänner und Dünnfrauen?
    Für einen (reisenden) Schriftsteller klingt eine solche Mitgift (Gift!) wie eine Aufforderung zum Pfusch. Denn er muss 99,99 Prozent aller Phänomene, Emotionen und Gedanken, die ihm die Welt schenkt (oder aufbürdet), übersehen, überhören, überfühlen. Nur die 0,01 Prozent bleiben ihm. Sie reichen, um von den Wohlfühloasen zu berichten, in die nur jene dürfen, die sich rastlos wohlfühlen wollen. Die Spaßigen eben, die sich vor der Wirklichkeit schrecken wie der Teufel vor dem Weihwasser.
    Die letzten Absätze sollen deshalb einer Frau gelten, deren Mut, Bestimmtheit und Lebensfreude über die Maßen erstaunen. Ihr Empfindungsvermögen lag so unendlich weit weg vom unheilbaren Gegrinse der Spaßguerilla: Linda Norgrove wurde 1974 auf einer Insel der Äußeren Hebriden geboren und mit ihrer Schwester von Eltern großgezogen, die mit den beiden Kindern – wann immer die Mittel es erlaubten – in ferne Länder zogen. Linda fing sogleich Feuer. Schon als Dreizehnjährige sah sie die Wunder und die Wunden dieser Welt, registrierte von Anfang an die Ungereimtheiten und Widersprüche. Sie sah immer beides, also immer alles: allen Reichtum und alle Schändung.
    Sie studierte in England und Amerika, fuhr mit dem Rad von Oregon nach Washington, D. C., radelte durch China und Tibet, tauchte, jonglierte, trainierte Pferde, nahm an einem Kamelrennen teil und schloss mit einem Master in »environmental management« ab (und einem PhD in einer anderen Fakultät). Sie wollte die Welt, die Umwelt gestalten. Sie arbeitete in Afrika, in Südamerika und die letzten Jahre in Afghanistan. Dort stand sie bei einem Unternehmen unter Vertrag, das auf »Entwicklungsalternativen« spezialisiert war: Schulen, Infrastruktur, Ausbildung. Mit ihrem persönlichen Schwerpunkt: Unterricht für Mädchen.
    Sie war in Jalalabat stationiert, sprach Dari, war überaus beliebt. Während einer Fahrt aufs Land wurde sie von Islamisten entführt. Zwölf Tage später versuchte die amerikanische Armee, die 36-Jährige in einer waghalsigen Nachtaktion zu befreien. Mithilfe der Navy Seals , ihrer besttrainierten Soldaten. Der Versuch scheiterte, Linda Norgrove kam dabei ums Leben. Durch »friendly fire«, durch eine fehlgegangene Granate der Befreier.
    Bei ihrer Beerdigung auf der Isle of Lewis, wo Linda ihre Kindheit verbracht hatte, sprach ein Freund der Familie davon, dass ihr
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