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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt
Autoren: Andreas Altmann
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begann die Diät. Sie musste sein, denn ich war von der schlimmsten Krankheit geschlagen, die einem Reisenden zustoßen kann: Ich war satt! Hatte keinen Hunger mehr, spürte nicht mehr die Gier nach allem. Die Festplatten meiner fünf Sinne liefen über. Sogar mein Mitgefühl war verschwunden, wie ein unwirscher Zeitgenosse führte ich mich auf. Für einen Schreiber ist das ein doppelt unguter Zustand. Weil er damit die Fähigkeit verlernt, »wahr«-zunehmen, er sich nur noch halbherzig und halbhirnig auf die Wirklichkeit einlässt. Und weil er Monate danach – ganz indiskutabel – ein herzloses, hirnloses Buch abliefern würde.
    Exempel: George Rodger, berühmt geworden unter anderem mit seinen Fotos der Nuba-Ringer, betrat April 1945 mit der englischen Armee das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Und begann im Auftrag von Life , den Tod zu fotografieren, die Skelettmenschen und die Skelettberge. Das Ende einer wahnwitzigen Idee.
    Später erzählte Rodger, dass er mitten in seiner Arbeit innehielt, denn ein Schock überkam ihn. Nicht über das Grauen, nein, über ihn, der wie ein kalter Profi nach ästhetisch befriedigenden Perspektiven gesucht hatte, um »gute Bilder« zu schießen. Er erklärte seine Kaltschnäuzigkeit mit der Tatsache, dass er inzwischen zu viel Bestialität gesehen hatte und »blasé« geworden war (die englische Sprache benutzt das französische Wort). Als Schutzmaßnahme, um sich vor zu viel Barbarei abzuschirmen. Der Schreck fuhr so tief in ihn, dass er seine Karriere als Kriegsfotograf aufgab. Er wollte sein verwüstetes Herz retten. Er fing an, durch den Sudan zu reisen, und entdeckte die schönen Nuba.
    Ein Extrembeispiel, dem wir Glücklichen nie ausgesetzt waren. Dennoch, das Zuviel an ununterbrochener Intensität kann – auf Dauer – schaden und sich in sein Gegenteil verkehren. Gerade dann, wenn die Erfahrungen das Zumutbare überschreiten. Deshalb muss der Reisende – um beim Thema zu bleiben – zwischendurch wieder heimkehren. Dort muss er warten, würden die Indianer sagen, bis seine Seele nachgekommen ist. Um wieder ganz zu werden.
    In Thailand stieg ich kurz nach der Katastrophe vom 26. Dezember 2004 in einem Küstendorf ab, in dem ein »Hellseher« schon einen nächsten Tsunami vorausgesagt hatte. Die Bevölkerung war in Aufregung, viele verließen den Ort. Da ich noch nie an Propheten geglaubt habe, blieb ich. Natürlich zog kein Sturm über uns hinweg. Wochen später las ich ein Interview mit einem Geologieprofessor, einem anerkannten Wissenschaftler des Landes. Er sagte: »Die Erde muss sich von dem Desaster ausruhen. Sie hat jetzt nicht die Kraft, um sofort wieder mit solcher Heftigkeit zuzuschlagen.« Mir gefiel die metaphorische Erklärung. Selbst der mächtige Planet braucht Erholung, muss stillstehen und sich »besinnen«.
    Ich gestehe, nach den vier Monaten Südamerika – oder den vier Monaten Australien oder Asien oder Afrika – habe ich mit einem kleinen hellen Glücksschrei meine Wohnung betreten. Ich war reif. Für vier Wände, die ich nicht schon morgen wieder, um fünf Uhr früh, verlassen musste. Für meinen Futon, der breit genug war, lang genug. Für meine Dusche, in der sich noch nie ein Ungeziefer befunden hatte. »Home is a magic word«, meinte Jack Kerouac, und der hat sich gewiss auch herumgetrieben.
    Heimat ist ein wunderbares Wort. Doch »Bleibe« klingt vielleicht noch schöner. Weil es gleich den Zustand ausdrückt: bleiben. Das wäre da, wo man sich beschützt fühlt. Auch nicht zu leugnen: Jeder versteht darunter etwas anderes. Albert Camus notierte einmal, dass es die französische Sprache sei, wo er sich zu Hause fühle. Und George Steiner, der englische uomo universale , wird überall da heimisch, »wo meine Schreibmaschine und daneben ein Kaffeehaus steht«. Und Stefan Zweig, der flüchtende Jude, brachte sich im fernen Brasilien um. Auch aus Sehnsucht nach Deutsch und europäischem Geist – eben Heimat. Und würde ich – weder Nobelpreisträger noch gehetzt von einem dramatischen Schicksal – gefragt, warum ich in Paris lebe, dann lautete die Antwort schlicht: Weil es dort schön aussieht! Da Schönheit bekanntlich mit den Gemeinheiten des Lebens versöhnt.
    Dazu eine kleine Geschichte. Bei einer Zwischenlandung in London-Heathrow kaufte ich für eine Freundin eine Cartier, so verliebt war ich. Das Modell »Tank«, viereckig, wie in den 30er-Jahren. Die Verkäuferin fragte mich, warum genau diese Uhr. Und ich erzählte ihr,
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