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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt
Autoren: Andreas Altmann
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immer als Gebrauchsartikel verstanden, nützlich, praktisch, aber nicht mehr. Bis ich in der Kantine der Universität von Algier – in Afrika, in einem arabischen Land – am Nebentisch einem Mann zuhörte, offensichtlich ein Dozent, der über englische Literatur sprach. Mit einem warmen, lupenreinen Oxford-Akzent. Ich schloss die Augen und verliebte mich. In seine Sprache. Wie man sich in jemanden verliebt, den man schon Jahre kennt, ohne dass etwas passiert ist. Jetzt ja. Jetzt schlug der Blitz ein, jetzt hörte ich den Swing, die Melodie.
    Eine ähnliche Erfahrung machen Leute, die Deutsch als Fremdsprache lernen. Himmel, was wurde unsere Muttersprache schon als eckig und aggressiv verspottet. Mark Twain verfasste lange Tiraden über seinen Unwillen (»… Es gibt ganz gewiss keine andere Sprache, die so unordentlich und systemlos daherkommt …«), Hitler hat ihr den Ruf eingebracht, die Sprache der »Denker und Henker« zu sein, und in neuzeitlichen Talkshows wird uns ein Wortverhau zugemutet, der an Flauberts Behauptung zweifeln lässt, dass »die Sprache das erste Genie eines Volkes« ist.
    Aber sie ist – trotz aller Sprachschänder – unser erstes Genie. Nie ist den Deutschen etwas Schwungvolleres gelungen. Und viele Nichtdeutsche, die alle Mühe – die tausend Vorurteile, die tausend Grammatikregeln, die tausend Ausnahmen – auf sich nehmen, werden vielleicht eines Tages »Das elfte Sonett« von Bert Brecht (» Als ich dich in das ferne Land verschickte …« ) lesen und wissen, dass sich jeder Ausrutscher und jedes Verhaspeln und jedes Erröten gelohnt haben.
    Sogar Yves, der Franzose, dem ich freundschaftlich verbunden bin: Er hasste allemand in der Schule und heute liest er mir die Liebesgedichte von Erich Fried am Telefon vor, nicht fassend, dass man der Liebe Großtaten und Niederträchtigkeiten so bravourös in Buchstaben übersetzen kann.
    Sorry, ich kam vom Thema ab. Nein, doch nicht. Denn der kleine Liebessums auf die eigene Sprache soll ja zeigen, dass man närrisch vernarrt in Deutsch sein kann und trotzdem noch Platz findet für andere Lieben. Wie eben die Liebe für Englisch. Oder Französisch. Oder Spanisch. Oder welche fremden Wörter auch immer. Jede Sprache ist Teil des Reichtums der Welt. Umso mehr, als wir wissen, dass von den etwa sechstausend – noch existierenden – viele bedroht sind. Vom glatten Aussterben.
    Auf Dominica, einer Insel in den Kleinen Antillen, traf ich vor Jahren Lewis Dupigny. Er war – behauptete er und die anderen 70 000 Einwohner behaupteten es auch – der Einzige, der noch »Karibisch« sprach. Der 69-Jährige schien der Letzte, der seine Frau noch »Iniboüinalicou« nannte, ein Wort, das nicht einmal seine Tochter mehr kannte. Denn die Jungen sagten stattdessen »Sweetheart« zu ihrem Honey. Weil sie lieber Englisch – die Sprache der ehemaligen Kolonialherren – beherrschten als ein Idiom, das ihnen hinter ihren fünf Millionen Bananenstauden nicht mehr viel nützte. Bei den Indianern in Nordamerika geht dasselbe Phänomen um. Sprachen, sprich Schätze, verschwinden, weil eine viel mächtigere sie zum Verstummen bringt. So hat jede Liebe ihre Schatten.
    Ich bin auch kein Anti-Anglizismen-Terrorist. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass Sprache ein lebendiger Organismus ist, der sich wandelt, der Wörter aus den Augen verliert und neue Wörter sich aneignet. Auch aus der Fremde. Eine Sprache befruchtet die andere. Zudem bewundere ich ja Englisch. Wenn beide Sprachen sich bereichern, sind beide hinterher reicher. Die English native speakers nehmen unser »Leitmotiv«, unsere »Weltanschauung«, unsere »Realpolitik«, unseren »Zeitgeist«, unsere »Angst«, unseren »Bildungsroman«, unsere »Blutwurst«, unsere »Wanderlust«, unsere »Pretzel«, unseren »Weltschmerz«, unser »verboten« (leider) und ein paar Hundert andere German expressions in ihren Wort-Schatz auf. Und umgekehrt tun wir es auch.
    Klug wäre es allerdings, wenn Kluge darüber entschieden, was wir uns einverleiben und was nicht. Denn die Angeber, die angeblich Englisch sprechen, aber nach dem 51. Wort nicht mehr weiterwissen, erzählen uns dann, zum Beispiel, dass sie zum »public viewing« gehen. Ohne sich je die Mühe gemacht zu haben, nachzuschauen, was der Ausdruck bedeutet: Ein Toter wird im Leichenschauhaus zum letzten Mal ausgestellt, damit die Angehörigen von ihm Abschied nehmen können. Oder sie, die Großkotze mit dem Bonsai-Englisch, gehen shoppen und
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