Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
Vom Netzwerk:
nun einen roten Stift, und schreiben Sie dick daneben: ZU HAUSE BLEIBEN! Dann nämlich reisen die Chinesen. Alle auf einmal. Na ja, fast. Die chinesische Eisenbahn meldete stolz, beim letzten Frühlingsfest habe sie mehr als 101 Millionen Menschen transportiert. Die sitzen dann alle in Ihrem Waggon. So wird es ihnen zumindest vorkommen, wenn Sie obige Warnung missachten.
    Das ist eine relativ neue Entwicklung. Fünfzig Jahre lang hielt es die chinesische Arbeiterklasse nämlich so: Sie arbeitete und arbeitete. Zur Abwechslung jubelte sie zwischendurch ihren großartigen Führern zu. Das Wort Ferien existierte nicht. 1999 dann, genau ein halbes Jahrhundert nach der Befreiung des Volkes durch Mao, kam eine neue Revolution: China bekam Ferien geschenkt. Je eine Woche zu den oben genannten Terminen.
    Selbst das städtische Proletariat ist seither von Reisefieber gepackt. Ehemalige Textilarbeiterinnen, Köche und Taxifahrer machen, was sie noch nie gemacht haben: Urlaub. Sie marschieren in ein Reisebüro, verlangen stur einen möglichst langen Flug, betteln ihrem Nachbarn im Flugzeug den Fensterplatz ab und finden sich schließlich zum ersten Mal in ihrem Leben in den Lüften wieder, auf dem Weg nach Yunnan, da, wo China auf das Goldene Dreieck stößt. So hat das wenigstens meine wunderbare Putzfrau gemacht im Jahr 2002, zum ersten Mal in ihrem 65-jährigen Leben. Einmal angekommen, erwartete Frau Yang und ihren Mann bunte Minderheitenfolklore, dazu frittierte Skorpione und eingelegte Baumrinde auf dem Abendbrotteller, eine anrüchige Tanzshow thailändischer Transsexueller, überteuerter Nepp in den Läden und wunderbare Gelegenheiten zum Posieren vor Elefanten und Pagoden aller Größen. Ein richtiger Pauschalurlaub also. »Das Fliegen war das Schönste«, sagte die glückliche Frau Yang hinterher, als sie uns kichernd ihr Mitbringsel überreichte: eine DVD von der Transsexuellenshow.
    Urlaub machen ist mittlerweile ein patriotischer Akt. Mit jedem Yuan, den Frau Yang ausgibt, erweist sie ihrem Land einen Dienst: Chinas Herrscher wollen, dass das Volk in Feierlaune unbeschwert seine Sparguthaben in den Wirtschaftskreislauf einbringt. Für Züge und Hotels, für Seidenteppiche und sprechende Briefmarkenalben (»Halte hoch die Fahne der Deng-Xiaoping-Theorie!«) – der Ankurbelung des Konsums zuliebe. Die Planer haben dafür sogar ein Wort erfunden: Ferienökonomie. Eine schöne Sache. Wenn man das mag: Boot an Boot über den vom Nebel verhangenen Westsee rudern, sich wahlweise von der Großen Mauer schubsen oder in der Verbotenen Stadt strangulieren, am Ozean bis zum Horizont kein Wasser sehen vor schwarzen aufgeblasenen Autoreifen, die den Blick verdunkeln und in denen selige Sommerfrischler schaukeln, Bauch an Bauch, Schlauch an Schlauch. »Maultaschen kochen« heißt so etwas in China. Vor allem aber heißt es, ständig um den einen, den einzigen Platz für das Wichtigste raufen – die feierlich eingenommene Fotopose.

Geheimtipp Nummer eins
     
    Wie mische ich mich möglichst unauffällig unter eine chinesische Tourgruppe?
    Packen Sie eine Wochenration Melonenkerne, Obst, getrocknetes Rindfleisch und in Tee eingelegte Eier, vor allem aber alle Ihre lebenden Verwandten in den Bus. Sollten Sie länger als einen Nachmittag unterwegs sein: Verdoppeln Sie die Essensvorräte.
    Fotografieren Sie alsdann jeden Felsbrocken, jeden Baum und jeden Ausländer, der sich Ihnen in den Weg stellt. Machen Sie keines dieser Fotos, ohne dabei sich selbst oder Ihre Frau / Tochter/ Tante / Großmutter aufs Bild zu stellen, am besten alle der Reihe nach. Egal, wie tief es unter dem Felsvorsprung, auf dem Sie balancieren, in die Schlucht hinuntergeht: Stehen Sie aufrecht wie ein Volksbefreiungsarmist, richten Sie den Blick starr in die Kamera, und legen Sie die Hände an die Hosennaht (junge Frauen strecken alternativ die Finger zum neckischen Victory-V in die Luft). Während andereAusländer die alte Pagode auf dem Berg fotografieren, wenden Sie sich dem eigentlichen Motiv zu: der riesigen bunten VW-Polo-Werbetafel auf der anderen Seite.
    Fragen Sie spätestens alle zwei Stunden nach heißem Wasser für Ihr mit Teeblättern gefülltes Marmeladenglas.
    Wenn Sie einen heiligen Dreitausender oder nicht restaurierte Teile der Großen Mauer besteigen, tragen Sie als Frau am besten Stöckelschuhe mit Absätzen von nicht weniger als fünf Zentimetern. Als Mann rollen Sie die Hosenbeine hoch bis zum Knie und das Hemd bis unter die Achselhöhle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher