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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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Willkür des Himmels und der Beamten ausgeliefert. Verlassen konnten sie sich nur auf Verwandte und Freunde. Das ist heute kaum anders. Man tauscht, sammelt und vergilt Gefälligkeiten. »Wir hatten eben nie einen Rechtsstaat«, sagte mir ein Bekannter, ein Möbelrestaurator: »Dinge bewegen kann man in China oft nur durch die Hintertür, mithilfe seiner Freunde.« Weil solche »Freundschaft« keineswegs auf gemeinsamen Interessen oder Erfahrungen beruhen müssen, sind solche Dialoge möglich:
    A: »Ich kann den Typen nicht ausstehen. Eine Nervensäge!«
    B: »Wer ist das denn?«
    A: »Ach, ein Freund...«
    China ist da keineswegs einzigartig. Schon im 19. Jahrhundert traf die deutsche Soziologie die Unterscheidung zwischen Gesellschaften, die sich auf Gerechtigkeit gründen, und solchen, deren Basis und Münze die Freundschaft ist (und wieder fällt einem Italien ein). Nun kann man das bedauerlich finden: eine Gemeinschaft, in der die Grenzen zwischen Freundschaftsdienst und Korruption fließend sind, die also mafiöse Strukturen begünstigt. Man kann es aber auch so sehen wie der italienische Autor Luciano De Crescenzo, der in seinerkleinen »Geschichte der griechischen Philosophie« das beobachtet: »Wer in einer auf Freundschaft gegründeten Gemeinschaft lebt, weiß, dass er nur überleben kann, wenn er so viele Freunde wie möglich hat, und dadurch wird er geselliger und seinem Nächsten gegenüber aufgeschlossener.« Und der Bürger des Rechtsstaats? Wird Kontakte mit anderen reduzieren »und in kürzester Zeit ein außerordentlich ziviles und ›distanziertes‹ Individuum werden«. Tatsächlich ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass Chinesen oftmals mehr Spaß haben als wir. Und natürlich kennen auch die Chinesen die Freundschaft, die auf Seelenverwandtschaft beruht. Ein solcher Freund heißt zhi yin , »der die Klänge erkennt«. Das kam so: Während der Zeit der Streitenden Reiche (476–221 v. Chr.) saß in seinem Boot am Ufer des Han-Flusses der Beamte Boya, ein Meister der siebensaitigen Zither, und spielte auf seinem Instrument. Da kam der Holzfäller Zhong Ziqi des Weges, ein einfacher Mann, der das Zitherspiel liebte. Und als Boya, ohne ein Wort zu sagen, ein Stück über hohe Gebirge anstimmte, da rief der Holzfäller aus: »Vortrefflich! Mächtig wie der Berg Tai«, und als er eine Weise über rauschende Gewässer folgen ließ, da sagte der Holzfäller: »Vortrefflich! Überschäumend wie die Flüsse und Ströme.« Als Zhong Ziqi starb, rührte Boya seine Zither nie mehr an: Er hatte den Menschen verloren, der seine Klänge erkannte.
    Vielleicht ist das also nicht das Schlechteste: den Klängen nachzulauschen in diesem Land.

 

Sprichwörter
     
     
    Meist in vier Schriftzeichen gegossene Weisheit. Auf knappsten Raum verdichtete Lebenserfahrung dieses Volkes. Zum Beispiel: »Der Bauch des Kanzlers ist geräumig genug für die Schifffahrt.« Chengyu sind oft Anspielungen auf Philosophie, Literatur und historische Anekdoten und als solche Ausweis der Bildung des Sprechers. Sie haben sich über die Jahrtausende ins Unendliche vermehrt und sind imstande, dem Stolz und dem Selbstvertrauen eines jeden Chinesischlernenden tödliche Wunden beizubringen. Da hat man sich nach Jahren des Studiums zu der Illusion verstiegen, man beherrsche die Sprache leidlich, bekommt auf Partys kräftig Honig ums Maul geschmiert (Ausländer: »Guten Tag.« Chinese: »Oh, Ihr Chinesisch ist exzellent!«), worauf man munter drauflosplappert und sich alsbald sonnt in seiner Eloquenz. Man schwatzt, man scherzt, man lacht, man kreuzt die Klingen zum Thema Ren-minbi-Aufwertung (in Wirklichkeit: Fußball) – und mit einem Mal sagt Ihr Gegenüber: »Tigerkopf, Schlangenschwanz.« Wie bitte? »Ist doch klar«, fährt der Chinese fort: »Schieben drei, aufhalten vier.« Ihnen ist lediglich eines klar: dass es sich hier wahrscheinlich nicht um eine chinesischeFußballtaktik handelt. Und so grinsen Sie erst mal wie ein Schaf, nicken eifrig (»Sowieso!«) und verabschieden sich eilig, »noch was zu trinken holen«. Manche der Sprichwörter erklären sich von selbst: »Wenn du in ein Dorf gehst, folge den Gebräuchen dort.« Leider sind diese in der Minderzahl. In meinem Fall zumindest ist es so, dass meine chinesischen Bekannten meist »der Kuh auf der Zither vorspielen« (Perlen vor die Säue werfen), wenn sie zum Beispiel ausrufen: Sai weng shi ma – »Der Greis an der Grenze hat sein Pferd verloren.« Dazu müsste ich
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