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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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nämlich wissen, dass das Pferd später zu dem alten Mann zurückkam – in Begleitung eines zweiten Pferdes. Ein Glücksfall also? Dass der alte Mann das zweite Pferd seinem Sohn schenkte, der von dem Tier prompt abgeworfen wurde und sich das Bein brach. Ein Unglück? Dass das gebrochene Bein den Sohn schließlich davor bewahrte, zur Armee eingezogen zu werden. Also doch ein Geschenk des Himmels! Dass diese in gerade mal vier Schriftzeichen verborgene Geschichte also bedeutet: Fälle keine voreiligen Urteile darüber, ob etwas zum Guten oder zum Schlechten ist, die Welt hält immer neue Überraschungen bereit.
    Die Welt?
    China.

 

Wenn Sie nach Peking zurückkehren
     
    Wundern Sie sich nicht. Wenn das Peking-Gefühl Ihr Rückgrat hochkriecht. Es kam einmal ein deutscher Komponist in die Stadt, der kannte sie von früher. »Verrückt«, stammelte er, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Da kommst du nach gerade mal zwei Jahren wieder – und Peking existiert nicht mehr. Weg, futsch. Stattdessen steht da eine neue Stadt. Und die nennt sich wieder Peking.«
    Peking häutet sich nicht bloß, es entkernt sich obendrein. Was Besucher gern Dynamik nennen, ist für viele Bewohner ein Kreuz: Sie halten kaum Schritt mit ihrer Stadt. Die Ausländer am wenigsten. Zum Beispiel bei den Restaurants. In Deutschland ruft man ein Lokal an, um fürs Abendessen einen Tisch zu reservieren. In Peking rufen Sie auch an: Um zu erfahren, ob es überhaupt noch steht. Sie halten das jetzt wahrscheinlich für einen Witz. Das tun unsere Freunde in der Regel auch. Bis sie selbst nach Peking kommen. Die Münchner Freunde zum Beispiel, die einen Monat bei uns wohnten. Als wir am Weihnachtsabend zu einem Festessen im famosen »Feuertopf-König« aufbrachen, da dachten wir zuerst, wirhätten uns in der Adresse geirrt. Hatten wir nicht, aber an der Stelle gähnte ein Bauloch. Wir wichen aus ins »Goldene Bergdorf«, das war auch lecker – und keine zwei Wochen später ebenfalls abgerissen. Wie kurz danach unser Japaner. Drei Lieblingsrestaurants in vier Wochen: weg, futsch. So geht das jetzt seit Jahren. Ich habe das Zählen aufgegeben, trauere nur noch einzelnen Marksteinen meiner Erinnerung nach: einem heimeligen Nudelladen, einem alten Theater (dafür hat die Stadt jetzt Asiens größten Büro- und Einkaufsblock: ein Bauwerk, für das man in einem von mir herbeigeträumten Land Stadtplaner und Architekten vor Gericht stellen würde).
    Das Peking-Gefühl also. Es ist ein Spross der Peking-Regel, mit der übellaunige Götter die Stadt geschlagen haben. Die Regel lautet: »1. Nichts habe Bestand. 2. Schon gar nicht das Schöne und Gemütliche.« Das Peking-Gefühl müssen Sie nicht pflegen, es fällt Sie an, hinterrücks, bei der Entdeckung kleiner Wunder: eines Hofhauses aus verflossenen Jahrhunderten, einer verwunschenen Bar am Seeufer. Vor solchen Oasen steht man sprachlos. Vor Glück? Nur bedingt. Es kriecht etwas das Rückgrat hoch, durchflutet die Brust, nimmt das Herz in die Zange – und das ist Furcht. Furcht und Sorge und Trauer, wie es der Anblick von Todgeweihtem auslöst. Eine einst kaiserliche Stadt löscht sich aus, um sich neu zu erfinden. Profitabel, modern, hässlich, planlos.
    Halt, seit Neuestem gibt es einen Plan. Die Stadtregierung bat 200 Akademiker und 70 Forschungsinstitute zum Ideenaustausch, und was herauskam, präsentierte ein hochrangiges Mitglied der Stadtplanungskommission stolz der Öffentlichkeit. Das schreibt China Daily: »Der neue Plan stellt zum ersten Mal das Konzept ›Aufbau einer zum Leben geeigneten Gesellschaft‹ vor als Ziel für die Entwicklung unserer Stadt.« Noch einmal, zum Mitschreiben: Aufbau einer zum Leben geeigneten Gesellschaft. Zum ersten Mal. Sechs Jahrzehnte nach der Gründung der Volksrepublik. So eine Stadt ist das, und von solchen Leuten wird sie regiert.
    Ich habe es das Peking-Gefühl genannt, aber eigentlich kann es einen in ganz China packen, jederzeit und überall. Wie kam es zu einem solchen Geschwindigkeitsrausch, zu dieser Orgie des Wandels um des Wandels willen? Brauchte es dazu ein Land, das so lange erstarrt, so lange auf der Stelle getreten war wie dieses? China früher: In diesem Land könne man keinen Tisch verrücken, ohne dass es zu Blutvergießen komme, lautete der Seufzer vor hundert Jahren. China heute: Da fehlen wohl nicht der Profit und nicht die Aufregung, aber oft der Kopf und immer die Seele.

Geheimtipp
     
    Schließen Sie die Augen, dann werden
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