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Galgentod

Galgentod

Titel: Galgentod
Autoren: Elke Schwab
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schaute lieber auf das Fenster. Aber auch dort sah er nichts Berauschendes. Der blaue Himmel wurde nach und nach von schwarzen Wolkenbergen zugezogen.
    »Braut sich ein Gewitter zusammen?«, fragte er.
    Andrea schaute ebenfalls raus und meinte: »Sieht so aus.«
    »Vielleicht fühle ich mich deshalb so elend.« Aber über diese Mutmaßung musste Schnur selbst lachen. Es gelang ihm einfach nicht, sich von Schuld freizusprechen, seit er wusste, dass sie den Falschen festgenommen hatten. Und die Tatsache, dass Erik so hilflos in diesem Krankenhausbett lag, machte seine Selbstvorwürfe nicht besser.
    »Hat irgendjemand – außer uns –Erik mal besucht?«, fragte Schnur.
    »Wer sollte denn kommen?«, hielt Andrea dagegen. »Die Mutter lebt in Köln und hat kein Auto. Die Brüder sind in alle Winde zerstreut und wissen vermutlich noch nicht einmal, dass Erik im Krankenhaus liegt. Und die Kollegen sind alle im Einsatz, um Friedolinus Kalkbrenner zu schnappen.«
    »Es hätte ja sein können, dass er inzwischen endlich mit Anke Deister gesprochen hat.«
    »Ich werde mit ihr sprechen«, schlug Andrea schnell vor. »Vermutlich weiß sie noch gar nicht, was passiert ist.«
    »Du magst Erik sehr, stimmt’s?«, fragte Schnur staunend.
    Andrea nickte.
    »Wie kommt das? Ihr kennt euch doch erst ein paar Tage.«
    »Erik ist ein sehr tiefgründiger Mensch, den man einfach mögen muss«, antwortete Andrea und schaute dabei auf den schlafenden Mann. »Auf seiner Seele lastet etwas, daran hat er schwer zu nagen. Und das ist wohl auch der Grund, warum es ihm so schwer fällt, den Schritt auf Anke zuzugehen. Aber ich bin zuversichtlich, dass er das Richtige tun wird.«
    »Weißt du, was ihn so beschäftigt?«
    »Nein. Du?«
    »Es steht in seiner Personalakte.«
    »Ich will es aber nicht von dir hören, sondern von ihm selbst.«
    »Und du glaubst, dass er es dir anvertrauen wird?«
    »Ich bin mir ganz sicher.«
    Schnur lächelte, das erste Lächeln seit langem.
    Plötzlich ertönten zwei Schüsse, dann kam der Aufruf »Achtung, Achtung, hier ist die Polizei. Legen sie sich flach auf den Boden! Die Hände hinter den Kopf! Widerstand ist zwecklos!«
    Andrea schaute sich erschrocken im Krankenzimmer um. Doch als ihr Blick auf Schnur fiel, hatte sie die Antwort: Mit hochrotem Gesicht nestelte er sein Handy aus der Hemdtasche. »Ich werde meinen Sohn irgendwann wirklich verhaften«, knurrte er mit hochrotem Gesicht und drückte wieder einmal sämtliche Knöpfe, bis der Gesprächspartner laut im Krankenzimmer zu hören war.
    »Wir haben den BMW Ihres Kollegen Erik Tenes gefunden.«
    »Wo und wie? War jemand drin?«
    »Das Auto ist zwischen Von-der-Heydt und Riegelsberg von der Autobahn abgekommen, über die Leitplanken geflogen und einen Hang hinuntergestürzt. Drin saß ein Mann. Eine Frau lag unter dem Wagen. Der Mann wurde mit dem Hubschrauber zum Winterberg-Krankenhaus geflogen. Für die Frau kam jede Hilfe zu spät.«

Kapitel 74
    Schnur fühlte sich wie ein ruheloser Geist. Seit Stunden überschlugen sich seine Gedanken. Seine Beschäftigung mit Toten hatte sich zu einer Beschäftigung mit Kranken gewandelt. Die Bilder seines Mitarbeiters Erik spukten noch in seinem Kopf, da sah er sich auch schon dem nächsten Patienten im nächsten Krankenhaus gegenüber.
    Linus Kalkbrenner.
    Der Mann, von dessen Existenz sie viel zu lange nichts gewusst hatten.
    Der Mann, der nach seiner Entdeckung für die Polizei ein gefährliches Phantom geworden war.
    Der Mann, der an Eriks desolatem Zustand schuld war.
    Der Mann, den Schnur wirklich in jede Hölle hätte schicken wollen.
    Nun saß er direkt vor Friedolinus Kalkbrenner. Doch was er sah, war ein Häufchen Elend in weißen Kissen. Ein Vater, der gerade seine Tochter verloren hatte.
    Schnurs Hass verwandelte sich in Sekundenschnelle in Trostlosigkeit. Hatte dieser Fall wirklich so enden müssen?
    Kalkbrenner öffnete die Augen.
    Eine Weile starrten sich die Männer nur an. Feindseligkeit schwang zwischen ihnen. Dieses Gespräch würde nicht so verlaufen, wie Schnur sich das wünschte. Aber seit wann waren auf frischer Tat ertappte Mörder freundlich?
    »Was ist mit meiner Tochter?«
    Das war genau die Frage, auf die Schnur liebend gern verzichtet hätte.
    Aber seine Antwort kam so zögerlich, dass Kalkbrenner schon verstand. Sein Gesicht fiel in sich zusammen. Tränen liefen über seine Wangen.
    Lange Zeit geschah nichts.
    Schnur wartete ab. Er wollte jetzt und hier ein Geständnis von diesem Mann,
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