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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Autoren: Anne Perry
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auch unbeholfen, hoben Orme und Coulter den Verletzten zur Fähre hinüber, wo sie ihn auf den Boden betteten. Während der gesamten Zeit presste ihm Coulter die improvisierte Mullbinde auf die Wunde.
    Monk nahm unterdessen das herabgefallene Ruder des Leichters mit dem flachen Rumpf an sich und tauchte das Blatt mit beiden Händen ins Wasser, in dem schwankenden Gefährt ständig um sein Gleichgewicht kämpfend. Kaum war Orme im Boot, entfernte er sich von der Fähre. Das Rudern gelang ihm mit einer Selbstverständlichkeit, die er nicht erwartet hatte. Dank Erinnerungen und Dingen, die man ihm erzählt hatte, wusste er, dass er in Northumberland von Booten umgeben aufgewachsen war; meistens hatte er wohl gefischt und bei Regen in Rettungsbooten gesessen. Das Meer mit seinen vielen Eigenarten war tief in ihm verwurzelt und mit ihm Achtsamkeit und Disziplin. Man kann gegen Menschen und die Gesetze rebellieren, aber nur ein Dummkopf lehnt sich gegen das Meer auf. Und das tut er auch bloß ein Mal.
    »Wir holen ihn nicht mehr ein!«, rief Orme verzweifelt. »Dabei würde ich ihm liebend gern mit meinen eigenen Händen die Schlinge um den Hals knüpfen und dann die Falltür unter seinen Füßen runterklappen.«
    Monk gab keine Antwort. Er hatte ein Gefühl für die Länge und das Gewicht des Ruders entwickelt und tauchte es immer im richtigen Moment ein, sodass er mit jedem Schlag die höchstmögliche Geschwindigkeit herausholte. Und endlich fuhren sie mit der Strömung, so wie fünfzig Meter vor ihnen auch die anderen Kähne.
    Im Moment konnte Orme nichts tun, um zu helfen. In dieser Art von Boot konnte nur ein Mann rudern. Er saß auf der anderen Seite, um Monks Gewicht auszugleichen. Sein Blick war starr nach vorn gerichtet, seine Uniformjacke bis zum Hals zugeknöpft, um zu verbergen, dass er kein Hemd trug. Dasjenige, das jetzt als Mullbinde diente, würde er mit Sicherheit nie wieder anziehen.
    »Das ist ein ganzer Verband«, meldete Monk voller entschlossenem Optimismus. »Die können sich nicht wie wir einfach zwischen ankernden Schiffen hindurchschlängeln. Sie werden au ßen herumfahren müssen.«
    »Aber wenn wir zwischen den Schiffen fahren, können wir sie leicht aus den Augen verlieren«, warnte Orme düster. »Und wir könnten weiß Gott wo rauskommen.«
    »Wenn wir das nicht tun, verlieren wir sie in jedem Fall«, erwiderte Monk. »Sie sind fünfzig Meter vor uns, und der Abstand wächst.« Er legte sein ganzes Gewicht in den nächsten Schlag, und prompt rutschte ihm das Ruderblatt weg. Die Art des Widerstands im Wasser verriet ihm sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Das Boot kam vom Kurs ab, und es dauerte über eine Minute, bis er in seinen Rhythmus zurückfand.
    Orme blickte zur Seite und tat so, als hätte er nichts bemerkt.
    Der Kahnverband beschrieb einen weiten Bogen um ein Schiff der East India Company, auf dessen Deck Schauermänner mit entblößtem Oberkörper Truhen voller Gewürze, Seide und vermutlich auch Tee schleppten.
    Monk setzte alles auf eine Karte und entschied sich für die Abkürzung durch den Hafen. Fieberhaft suchte er nach einer Lücke zwischen dem East-India-Schiff und einem spanischen Schoner, von dem gerade Töpferwaren und Orangen abgeladen wurden. Er konzentrierte sich darauf, sein Gewicht richtig auszubalancieren und die Schläge regelmäßig auszuführen. Soweit ihm das möglich war, bemühte er sich, nicht daran zu denken, dass die Kähne jetzt, da sie außerhalb ihres Gesichtsfeldes waren, womöglich auf das andere Ufer zuhielten. Wenn das geschah, würden sie sie garantiert verlieren.
    So knapp, wie er es nur wagen konnte, passierte er das East-India-Schiff. Er hörte das Klatschen des Wassers gegen seinen mächtigen Rumpf und das gedämpfte Rauschen und Flattern der eingeholten Segel im Wind.
    Kaum hatte er wieder offenes Wasser erreicht, riskierte er einen Blick nach steuerbord. Die Lastkähne waren jetzt deutlich näher gekommen, höchstens noch vierzig Meter entfernt. Er beherrschte sich nur mühsam. Mit geballten Fäusten und hochgezogenen Schultern wirkte Orme ebenfalls aufs Äußerste angespannt. Seine Lippen bewegten sich – er zählte die Kähne vor ihnen, nur um sich zu vergewissern, dass sich keiner abgesetzt hatte, als sie sie kurz aus den Augen verloren hatten.
    Der Vorsprung wurde immer geringer. Allerdings konnten sie Phillips nicht mehr ausmachen. Aufmerksam ließ Monk den Blick über die mit Segeltuch bedeckte Fracht der Kähne schweifen. Ihr
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