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Gaisburger Schlachthof

Gaisburger Schlachthof

Titel: Gaisburger Schlachthof
Autoren: Christine Lehmann
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gerade bergauf quälte, huschte etwas Rostrotes durch mein seitliches Gesichtsfeld. Fritz Schiller. Er eilte mit Riesenschritten die Treppe hinauf. Er rannte geradezu.
    Ein paar Sekunden später bog Weber um die Ecke und verschwand in Richtung Umkleide: brauner Dreiteiler, lila Sporttasche. Es war halb acht, Dienstschluss höherer Beamter und Selbständiger.
    Als Horst mich nach einer Viertelstunde vom Bergpass holte, zeigte das Display den Verbrauch von gerade mal 27 Kalorien an. Wer auf diese Weise einen 250-Gramm-Becher Joghurt neutralisieren wollte, musste mindestens anderthalb Stunden strampeln. Horst führte mich zu den Beinmaschinen. Eine sehnige Frau mit Stirnband spreizte in der Adduktorenmaschine die Beine. In der Hackenschmidtmaschine, welche die freie Knie beuge simulierte, stöhnte ein Mann mit schwellendem Bein strecker im Orgasmus der Selbstfolter. Die Beinpresse war frei.
    »Ich will aber Krafttraining machen«, sagte ich, als Horst sich über die Eisenplatten beugte.
    »Dazu sind wir ja da.« Er steckte den Stecker bei fünfzig Kilo.
    »He! Müssen wir die Gewichte schonen?«
    Der Herkules fuhr sich durch die blonden Stoppeln. Die meisten Trainer empfahlen Frauen kleine Gewichte und viele Wiederholungen. Das förderte Ausdauer und Durchblutung. Hohe Gewichte und wenige Widerholungen dagegen schufen nicht nur Kraft, sondern auch unschönes Muskelvolumen. Ausdauer und Kraft konnte man niemals gleichzeitig trainieren. Die unterschiedlichen biochemischen Prozesse in der Muskulatur schlossen einander aus. Ein Grund, warum Mehrkämpfer gut im Wurf und in Kurzstrecken und so schlecht im Langlauf waren.
    Ich steckte mir siebzig Kilo.
    »Du kommst zurecht, wie ich sehe«, sagte Horst und wandte sich ab.
    Ich legte mein Handtuch auf dem plastikbespannten Sitz aus, klemmte mich mit angezogenen Knien hinter die senkrechte Platte, stemmte die Füße gegen die Gummierung und schob den Wagen nach hinten. Der Stahlzug hob die Eisenplatten. Auch dieses Gerät simulierte die Kniebeuge, nur dass man weiter in die Hocke kam, ohne die Knie zu schädigen, den Rücken schonte und die Gesäßmuskeln forderte. Nach den ersten sechs Wiederholungen stellte sich die existenzielle Frage: Warum tut man so was?
    Weber erschien in der Halle, diesmal in taubengrauem Sportdress. Wieder stieg er sogleich die Treppe hinauf, nur dass diesmal Schiller auf dem Treppenabsatz fehlte. Die feindselige Begegnung der Rüden würde oben stattfinden.
    Ich entstieg der Beinpresse und begab mich zum Beincur ler. Handtuch drauf, dann ich auf den Bauch, den Kopf abwärts, den Hintern oben, die Unterschenkel unter die gepolsterte Stange geklemmt und dann die dreißig Kilo an den Hintern gezogen.
    »Du darfst das Bein nicht ganz strecken«, sagte Horst. »Der Muskel darf nicht entspannt werden.« Die Belehrung hat te einfach sein müssen. »Es ist, weil der Muskel die größte Kraft entwickelt, wenn er das Gewicht bremsen muss, also bei der Extension, also wenn er sich ausdehnt.« Er meinte den physiologischen Gummibandeffekt, der die Springer vom Fleck katapultiert, wenn das Sprungbein zuvor den Anlauf abfängt.
    Ich wischte mir den Schweiß aus den Augen. »Ich glaube, ich gehe dann jetzt mal Fritz suchen.«
    »Wie du willst.« Horst lächelte nett, wandte sich der Frau mit dem Stirnband zu, die den Stöpsel nicht mehr aus den Gewichtsplatten bekam, und wurde im selben Moment von einem Muskelmann angesprochen, der etwas von »Schließfach« und »Zahl vergessen« murmelte. Horst streute ein leicht gestresstes »Moment« nach allen Seiten.
    Ich begab mich in den ersten Stock.
    Vor dem großen Spiegel sprang ein Dutzend Frauen wie besessen über kleine rote Plastikpodeste dem rasanten Tech no-Takt hinterher, dass der Boden bebte. Im Bistro war Erschöp fung zugange. Die nabelfreie Kuh verteilte auf Plateauschu hen Getränke an vier Tischen. Ganze drei Männer befanden sich in der Abteilung mit den Kurzhanteln. Einer sinnierte mit knittrigem Gesicht vor dem Spiegel über seine erschlaffte Haut auf festem Fleisch. Der andere riss Vierzehnkilohanteln hoch. Seine Schultern waren schon steile Rutschbahnen. Der dritte war Dr. Weber, der friedlich an der Seitenwand auf ei ner Matte mit Liegestützen beschäftigt war.
    Wo war Schiller? Hinter der Zwischenwand in der Abteilung der schweren freien Gewichte schraubte er zwischen brachliegenden Langhantelgeräten einsam eine neue Drückbank zusammen, so absorbiert und vermutlich halbtaub vom Musikgewummer, dass er
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