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Fundort Jannowitzbrücke

Fundort Jannowitzbrücke

Titel: Fundort Jannowitzbrücke
Autoren: Stefan Holtkötter
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warst du. Das haben dir weder deine Eltern gesagt noch sonst jemand.«
    Tobias Wink starrte ihn an, in seinem Blick lag das blanke Entsetzen.
    »Es gibt keine Entschuldigung für deine Taten«, sagte Michael. »Alles, was es noch gibt, sind Angst und Trauer und zerstörte Familien.«
    Er ließ ihn los und trat schwer atmend zurück. Wink fiel hustend auf den Tisch und faßte sich an den Hals. Dann sah er ängstlich zu ihm auf. Michael fühlte sich wie betäubt.
    »Ich hätte dich so gerne abgeknallt«, flüsterte er. »Nur um Barbara einen Gefallen zu tun.« Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. »Statt dessen wirst du den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen. Und glaub mir, ich werde dafür sorgen, daß du jeden einzelnen, verfluchten Tag daran erinnert wirst, was du getan hast. Wir werden dir keine Chance lassen, dich in Ausreden zu flüchten. Wenn du schon leben mußt, dann sollst du mit dem leben, was du getan hast.«
    Michael dachte an den schmutzigen Küchenboden und das Blut, das in leuchtend roten Rinnsalen an den Fliesen hinunterlief. Sein Kopf schmerzte mit einem Mal heftig, und er wollte nur noch den Vernehmungsraum verlassen.
    »Recht gibt es hier nicht mehr«, sagte er erschöpft. »Es gibt nur noch den Trost, daß du nicht aus der Verantwortung gelassen wirst.«
    Tobias Wink starrte ihn noch immer sprachlos an.
    »Und das ist nur ein schwacher Trost«, flüsterte Michael.
    Er hatte keine Ahnung, ob Tobias überhaupt etwas verstanden hatte. Doch auch das schien nun egal zu sein. Ihm wurde klar, wie gleichgültig ihm dieser Junge plötzlich wurde. Es hatte keinen Sinn, ihn anzuschreien. Es gab überhaupt niemanden mehr, den er noch anschreien konnte. Sein Vater war schon viel zu lange tot.
    Vorsichtig sah er zu Wolfgang hinüber. Er fürchtete seinen Blick, schließlich hatte er sich in die Vernehmung eingemischt. Unter Umständen hatte er die gesamte Dramaturgie seines Chefs über den Haufen geworfen.
    Doch Wolfgang beachtete ihn gar nicht. Er fixierte Tobias Wink, der auf der anderen Seite des Tisches vor sich hin starrte. Er wartete einen Moment, dann lehnte er sich zurück.
    »Herr Wink«, sagte Wolfgang mit seiner ruhigen Stimme, »wollen Sie nun eine Aussage machen?«
    Für einen Augenblick trat wieder der schüchterne Ausdruck in das jungenhafte Gesicht. Tobias nickte. »Ja«, sagte er mit erstickter Stimme.
    Michael trat überrascht zurück. Wolfgang stellte das Tonband ein und begann mit seiner sonoren Stimme, den Jungen zu befragen. Er machte eine kurze Handbewegung, die Michael sofort verstand. Er verließ das Vernehmungszimmer. Die Tür stand noch offen, das Gespräch war bis in den Flur hinein zu hören. Ein letztes Mal sah er zu dem blassen Jungen hinüber, dann schloß er die Tür.
    Es war viel zu spät, um noch schlafen zu können. Die Straßen waren wie ausgestorben, und es schienen nur noch Taxen durch das nächtliche Berlin zu fahren. Michael versuchte, nicht mehr über Wink nachzudenken. Es würde ohnehin nichts mehr ändern. Er würde angeklagt werden, und damit war der Fall abgeschlossen. Und Michaels eigene Geschichten waren viel zu lange her.
    Er ließ sich durch die Straßen treiben, begleitet von dem Husten seiner Autoheizung. Später würde er nach Hause fahren und dann den ganzen Sonntag schlafen. Er betrachtete die Stadt jenseits der Windschutzscheibe. Enge Straßen wechselten mit breiten Alleen, er fuhr durch Straßentunnel, an Ampelkreuzungen vorbei und schließlich über die Stadtautobahn. Nur vereinzelt brannte Licht hinter den Fenstern. Als sei er ganz allein, mitten in dieser großen Stadt.
    Nach einiger Zeit wurde er von einem Martinshorn aus seinen Gedanken gerissen. Im Rückspiegel entdeckte er das Blaulicht einer Polizeistreife. Sie näherte sich rasch, und Michael fuhr den Wagen trotz der grünen Ampel rechts heran. Mit hohem Tempo raste der Streifenwagen an ihm vorbei und jagte über die Kreuzung.
    Der Kommissar wartete einen Augenblick, dann ordnete er sich wieder ein.
    Unwillkürlich fragte er sich, zu welchem Einsatz die Kollegen unterwegs waren. Er war dankbar, nicht im Streifendienst arbeiten zu müssen. Die ganze Nacht unterwegs, und niemand wußte, was als nächstes kommen würde. Jederzeit könnte über Funk ein Einsatz eingehen: Ruhestörung, Überfall, Belästigung, Verkehrsunfall. Und dann wieder ein Mord.
    Das Martinshorn wurde leiser, und der Wagen verschwand am Ende der Hauptstraße. Michael fuhr weiter. Er wußte bereits, daß er
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