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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch
Autoren: Wiley Cash
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standen Joe Bill und ich einfach da und sahen zu, wie Stump und Mr Thompson über die Straße zur Kirche gingen. Ich wollte nicht, dass Stump ohne mich da reinging, obwohl Mama mir wieder und wieder gesagt hatte, ich wäre noch nicht alt genug, um mit ihr zur Kirche zu gehen. Aber sie hatte mir auch wieder und wieder gesagt, ich sollte stets aufpassen, dass Stump nichts passierte, weil ich wie der große Bruder und er wie der kleine Bruder war. Aber was sie gesagt hatte, war jetzt wohl egal, dachte ich mir, und ich fühlte mich schrecklich klein, als ich da so stand und zusah, wie Mr Thompson Stump an die Hand nahm und über die Straße führte.
    Ich hatte mich wohl auf dem Weg durch den Wald irgendwo gekratzt, denn auf meinem Arm war ein schwarzer Tropfen Blut frisch verkrustet, und ich pulte die Kruste mit dem Finger ab und verrieb das Blut auf der Haut. Es hinterließ eine rostrote Spur zwischen den Härchen auf meinem Arm. Da ich und Joe Bill so lange im Schatten gestanden hatten, war der Schweiß an meinen Beinen schon fast getrocknet und fing an zu jucken. Ich wischte mir den blutverschmierten Finger an der Gesäßtasche ab, und dann kratzte ich mir mit den Fingernägeln die Beine, bis das Jucken aufhörte. Ich spürte die Musik von weit jenseits der Wiese in der Brust pochen.
    Joe Bill hockte sich ins Gras und stützte die Ellbogen auf die Knie. Er nahm ein Stöckchen und fing an, es in kleine Stücke zu brechen, die er dann vor sich hin warf. Er achtete gar nicht darauf, wo sie landeten, weil er immerzu die Rückseite der Kirche anstarrte, die Stelle, wo das Klimagerät im Fenster hing und bebte, als würde es jeden Moment die Bretter kaputtbrechen und runterfallen.
    »Was meinst du, was Stump da drin macht?«, fragte ich. Joe Bill sagte lange Zeit nichts, und dann lachte er und brach das letzte Stück von dem Stöckchen ab und warf es ins Gras. Er sah zu mir hoch und lächelte.
    »Singen jedenfalls nicht«, sagte er. »So viel ist sicher.«
    »Ja, aber aus irgendeinem Grund ist er da drin. Mr Thompson hat gesagt, es wär ein besonderer Tag für ihn. Vielleicht wollte Mom ihn bei sich haben.«
    »Aber warum?« sagte Joe Bill. »Er kann doch noch nicht mal sprechen oder singen oder so.«
    »Das ist egal«, erwiderte ich. »Vielleicht ist er jetzt alt genug, um in die Kirche zu gehen. Er ist dreizehn. Er ist älter als du.«
    »Na und«, entgegnete Joe Bill. »Dafür bin ich schlauer als er. Ich kann wenigstens sprechen.«
    »Bloß weil er nicht spricht, heißt das noch lange nicht, dass er nicht schlau ist.«
    »Mein Bruder sagt, wenn du nicht sprechen kannst, bist du doof«, sagte Joe Bill.
    »Dein Bruder ist ein Arschloch«, sagte ich, und sobald ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Joe Bill drehte sich ganz langsam um und sah mich an, als könnte er auch nicht glauben, dass ich das gesagt hatte. Wir starrten uns einen langen Augenblick an, und dann hockte ich mich neben ihn, nahm ein Stöckchen und fing an, es in Stücke zu brechen, damit ich ihn nicht ansehen musste, während er mich anstarrte.
    »Sag nichts über meinen Bruder«, sagte er schließlich.
    »Du auch nicht über meinen.«
    »Ich hab dir bloß erzählt, was Scooter gesagt hat.«
    »Ist mir egal, was er dir erzählt hat. Wieso hältst du immer zu ihm? Wo er dich doch dauernd verhaut.« Joe Bill stand auf und sah zur Kirche hinüber und dann sah er zu mir runter.
    »Gehen wir jetzt dahin oder nicht?«, fragte er. »Wenn du nicht willst, lauf ich nämlich zurück zum Fluss, ehe Miss Lyle sich auf die Suche nach uns macht.« Ich sagte nichts. Ich hockte bloß da und brach Stücke von dem Stöckchen ab, bis es immer kürzer und kürzer wurde, und ich blickte über das hohe Gras auf die Kirche und überlegte, was ich machen sollte. Joe Bill seufzte laut und drehte sich um und ging zurück in den Wald. »Ich hätt mir denken können, dass du dich nicht traust«, sagte er. »Du kneifst ja immer.«
    Ich hockte da und versuchte, mir vorzustellen, was Stump in der Kirche machte, wo die Musik so laut hämmerte und die vielen Leute sangen und riefen, und dann fiel mir ein, dass er mir ja kein Wort davon würde erzählen können, was er erlebt hatte. Ich dachte, wenn ich je rausfinden wollte, was die da drin machten, dann wäre das jetzt vielleicht meine einzige Chance. »Also gut«, rief ich. »Ich geh hin.« Joe Bill blieb stehen und drehte sich um und sah mich an. »Ich geh hin, wenn du mitkommst«, sagte ich.
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