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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder
Autoren: Liao Yiwu
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Hongpo, Sun Jiangyue, Zhong Shan, Li Zhen, Kai Yu, Yu Tian; die Ehefrauen überführter Delinquenten wie A Xia, Wei Jixue, Chen Youmin, Liu Xiaoya, Dong Nan, Xiao Xiao; Studenten wie Fan Dongmei und Zhao Panhong und schließlich Xiao Xujia, ein wichtiger Verantwortungsträger in der Einheit, in der Liao Yiwu vor seiner Verhaftung war. Die Polizeibehörden verlautbarten: »Das ist seit dem 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen der größte Fall unter Kulturschaffenden!«
    Am 31. Januar 1994 wurde Liao Yiwu auf internationalen Druck 43 Tage vor Ablauf seiner Strafe aus dem Gefängnis entlassen. Er hat sich anschließend scheiden lassen und Schulden gemacht, um sein Kind zu versorgen. Dieser »literarische Brandstifter« hat eine Zeitlang sein Unwesen getrieben, aber keine Spuren in der Geschichte hinterlassen, im Gegenteil, er versank, zur Schande der Menschheit versank er in einem Haufen Hundescheiße – von seinen Kollegen ausgelacht, getreten und verachtet, verkroch er sich in die hintersten Winkel und wurde am Ende vergessen. Außer seiner Familie hat sich noch am meisten die Polizei um ihn gekümmert: Wohin er auch kam, eine unsichtbare Wand folgte ihm auf dem Fuß.
    Sein Aufenthaltsort für die nächste Zeit wurde ein kleiner Bezirk namens Baiguolin, vor ein paar Jahren noch ein ödes Vorstadtgebiet, wo über Nacht die Läden und Geschäfte explosionsartig aus dem Boden geschossen waren. Seine Eltern kümmerten sich um die Ernährung, und er hatte jede Menge Zeit, im Hof zu sitzen und in den Himmel zu schauen: »Das ist alles so lange her«, dachte er, »der Ritter schaut zu, wie die Schneide seiner Seele langsam verrostet, was ihm noch an Leben bleibt, verbringt er im Kampf mit dem Rost.«
    Wenn es dunkel war, drückte er sich draußen an den Mauern entlang, sie waren robuster als ein Gefängnis. Wenn er an einem Betonzaun vorbeikam, zog er den Kopf ein und schaute sich um, nach einem, der reich war, den er ausnehmen konnte, um es, weit weg, seiner armen Frau und seinem armen Kind zukommen zu lassen – und es waren allein die althergebrachten Moralvorstellungen, die man ihm vor vielen Jahren beigebracht hatte, die ihn davon abhielten.
     
    Im Gefängnis lernte er Flöte spielen. Wenn er deprimiert war, spielte er wütend und böse auf diesem metaphysischen, fast schon heiligen Instrument. Das Leben war hart, fast wie die Schneide eines Messers, er hatte nur die Wahl, sich an den Markt anzupassen, weiterzuschreiben oder sich umzubringen.
    Er wählte das Schreiben. In der Falle, in der sie saßen, hatte sich eine Reihe von Literaten im Land für das Schreiben entschieden, für ein Schreiben ohne Hoffnung; niemand reichte ihnen eine rettende Hand, zollte ihnen Verständnis oder Anerkennung, niemand trug sie auf Händen, so sah die äußere Realität ihrer inneren Wirklichkeit aus. Sie mussten nüchterner werden, entspannter, offener, sie durften sich nicht zu viele Sorgen machen um die alten düsteren Gesichter, um ihre betagten Eltern, sie mussten weiter die Krallen und Zähne ihrer Erinnerung schärfen, sie durften nicht zu früh Rost ansetzen.
    Der Autor des »Archipel Gulag« sagte: »Vergessen heißt, beide Augen verlieren!«
     
    An einem der kältesten Abende im Winter 1994 besuchte Liao Yiwu den schon von Mao Zedong namentlich kritisierten Dichter und Rechtsabweichler Liu Shahe. [1]
    Der alte Vagabund saß in ein altes Sofa gekauert, sein Gesicht war blass, aber seine Lippen waren frisch, im fahlen Licht der Lampe sah er aus wie ein abgeschminktes Theatergespenst: »Ich bin ein weltflüchtiger Geist«, lachte er, »ich bin mit dem Leben im Reinen, und mit mir selbst auch.«
    Seine Stimme war noch ganz hell, er redete noch immer wie ein Buch, während fast dreier Stunden kam Liao Yiwu nur dreimal zu Wort, und das waren Antworten auf seine Fragen. Er fragte, was er in letzter Zeit gemacht habe, Liao antworte: »Geschrieben, zu Hause.«
    »Auch noch Gedichte?« Seine Augen blitzten. Liao schüttelte den Kopf. Er nickte und sagte im Brustton der Überzeugung: »Ich weiß, ich weiß! Du wirst auch keine Gedichte von solcher Vorstellungskraft mehr schreiben können! Wer so vom Schicksal geschlagen ist wie du und ich, der hat Verletzungen davongetragen, die nicht mehr heilen – also, gib den Dichter auf und werde ein Zeuge der Geschichte. Was du sagst, ist dummes Zeug, aber der Himmel hat dir ein ungewöhnliches Talent gegeben, das Schreiben, und er weiß, dass du keine Lügen verbreiten wirst. Er hat dich durch
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