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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder
Autoren: Liao Yiwu
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das Fegefeuer geschickt, du solltest die fürchterlichsten Qualen mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leib erleben. So viele fallen ihnen in die Hände, aber nur dir wurde die Chance gegeben, da herauszukommen, dich bei klarem Verstand zu erinnern und alles aufzuschreiben. Manchmal ist es auch ein Segen, wenn man durch die Verzweiflung hindurchgeht! Du musst ehrlich sein, wenn du schreibst, und wenn dann der Tag kommt, kann deine Arbeit Zeugnis ablegen oder als Material dienen, sie wird in den Archiven sein, Menschen werden sie ausleihen und lesen, sie können ihnen als Beweis dienen, das ist nicht schlecht. Und wer falsches Zeugnis ablegt, den wird der Zorn des Himmels treffen!«
    Liao glühte am ganzen Körper. Um die Schwäche, die ihm in den Knochen steckte, zu kaschieren, fragte er: »Warum schreiben Sie es nicht?«
    »Zu alt!«, seufzte der alte Vagabund, »Löcher in den Eingeweiden, die Augen wollen nicht mehr; bevor ich klar gesehen habe, habe ich viel geschrieben, aber seit ich durchblicke, kriege ich mich zu nichts mehr.«
    Liao stand auf und verabschiedete sich, wobei ihm ein Kürbis auffiel, der als Raumschmuck ganz nah bei dem grauen Kopf hing, auf ihm stand »Kürbisbube« (ein Ausdruck für einen Verrückten im Dialekt von Sichuan).
    Er stieg die Treppe hinunter, es war spät geworden und still. Ein gespenstischer Wagen, der heulende Wind, die vorbeihuschenden Larven der wenigen Passanten. Im Himmel über der Großstadt standen die Sterne wie Lichtzungen, sie drehten, dehnten sich, schrumpften und leckten schmerzhaft über seine Wangen. In diesem Augenblick schien er tatsächlich Gott zu sehen, Gott, auf seinem höchsten Richterstuhl, sein Leben war zu Ende, und seine Seele trat aus ihrer Höhle heraus – war er wirklich bereit, noch einmal die Maske eines Avantgarde-Dichters aufzusetzen, um vor Gericht als Zeuge aufzutreten?
    Das waren jetzt bereits drei Jahre, erinnerte er sich, er hatte das vorliegende Buch gerade konzipiert und konnte noch nicht Flöte spielen, später hatte er die fixe Idee, er sei von einem 84 Jahre alten Mönch namens Sima, einem Mitgefangenen, im Flötenspiel und in der daoistischen Bauchatmung unterwiesen worden, jedenfalls brachte er es auf dem Instrument allmählich zu einer gewissen Meisterschaft und pustete seine schriftstellerischen Ambitionen zu einem Gutteil aus sich heraus.
    Übrig blieb die Kühnheit, Zeugnis abzulegen.
     
    Früher galten Liao Yiwu und A Xia in ihrem Umfeld als regelrechtes Traumpaar, ein paar Monate vor Liaos Entlassung jedoch bestand ihre Beziehung nur noch dem Namen nach. Ihn quälte das Gewissen, dass sie seinetwegen, schwanger, wie sie war, über einen Monat im Gefängnis gewesen war, den ganzen Tag schwamm sie in Tränen und musste sich doch zwingen, gute Miene zu machen, um die dauernden grausamen Verhöre durchzustehen. Als sicher war, dass man sie entlassen würde, umklammerte sie mit beiden Händen ihr Bündel, tastete sich durch die tiefen Schatten des sonnigen Tages. Sie hatte Mühe, die Treppe am Ende der Gasse hinunterzukommen, da stieß sie jemand in den Rücken, entriss ihr das Bündel und rannte davon. Sie taumelte und fiel in den Staub, ihr Mund stand weit offen, aber sie konnte keinen Laut von sich geben. Die Umstehenden genossen schweigend das Schauspiel und gingen nur zögernd weiter.
    »Ich habe gute fünf Minuten gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen«, sagte sie, »ich hatte Angst, das Kind in meinem Bauch hätte was abbekommen.«
    Dann kamen Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmen wegen Diebstählen, es kam die Geburt, eine Infektion, eine unbeschreiblich schwere Zeit, von der er erst im Nachhinein erfuhr, als er gewahr wurde, dass aus ihr eine Frau geworden war, die, wenn es nottat, den Mut hatte, bis zum Letzten zu kämpfen. Die Szene ihrer Scheidung war sehr bewegend, sie ließ ihn mit einer einmaligen Zahlung für die nächsten zehn Jahre den Unterhalt für ihre gemeinsame Tochter Miaomiao abgelten, ab sofort sollte jeder Kontakt aufhören; er sagte, ich kann mich nicht scheiden lassen. Sie nannte ihn ein Tier, er sagte, ich bin ein Tier, um genau zu sein, ich bin ein Hund.
    Und dieser Hund war gezwungen, die Haut eines Menschen zu tragen.
    Als er den Schwanz einzog und sich trollte, stand seine Tochter hinter einer Balkontür und spuckte ihm nach.
    »Es hat mir nicht gefallen, dass ein Kind von vier Jahren so voller Verachtung ist«, seufzte er. Und dachte unwillkürlich daran, wie die Literatur seine Frau
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