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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder
Autoren: Liao Yiwu
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einem Relief, mir lagen Steine in der Kehle. Feifeis Tod nahm alle mit, die Nachbarn in unserer Straße wie die Verbrecherinnen im Gefängnis, überall wurde Geld gesammelt für Trauerbanner, und jede Menge Tränen wurden vergossen. Feifei hatte von Natur aus ein gutes Herz, sie konnte niemanden weinen sehn, ich machte mir Sorgen, dass so viele weinende Gesichter ihre Seele völlig erschöpfen könnten.
    Aber ihr gutes Herz ging über ihre Kräfte. Buchstäblich. Dieses Jahr an Neujahr saß die Familie bis tief in die Nacht um den Ofen herum, sie erzählte, dass sie nach Pingwu zurückkehren werde, beruflich, und wenn sie ein wenig Geld zusammenhabe, könnten wir alle zusammen eine Reise machen.
    »Papa kann in seine alte Heimat nach Jiangxi fahren, und ich, ich habe so viele Jahre geschuftet, ich sollte auch einmal ein wenig herauskommen.«
    Ein wenig herauskommen! Sieben Leute waren im Wagen, aber nur sie ist ums Leben gekommen, dabei konnte sie schon gar nicht mehr sagen, wie oft sie die holprige Straße durch dieses Waldgebiet schon hin- und hergefahren war. Der Kleinbus geriet ins Schleudern und stürzte in einen tiefen Graben, der linke Vorderreifen hing in der Luft, sie wurde aus dem Wagen geschleudert, und in zehn Meter Entfernung bohrte sich eine Baumwurzel dick wie die Öffnung einer Reisschale durch ihre Hüfte. Die Leute zogen sie ganz langsam heraus, ihr Unterleib war blutüberströmt. Ein alter Freund hielt sie im Arm und rief immerzu: »Feifei! Feifei!«
    Er drängte den Fahrer, sich auf den Weg zu machen. Ihre Lippen klebten an seinem Ohr, als murmele sie ein paar alte Geschichten. Als sie den letzten Atemzug tat, hob sich ihr Kopf ein wenig, ihr Gesicht war weiß wie ein klarer, endloser Winterhimmel.
     
    Unsere Eltern haben sich in Jiangxi kennengelernt, aus den wenigen Worten, die ihnen dazu zu entlocken waren, bastelte ich mir den allgemeinen Grund für unsere Existenz zurecht. Wu Jiu, mein fünfter Onkel mütterlicherseits und seines Zeichens Besitzer einer Wanderbühne, zog mit seiner ganzen Pekingoper-Truppe von Sichuan weg, sie tourten durch eine Reihe von Provinzen am Yangzi entlang und ließen sich in irgendeinem Kreis am Poyang-See nieder. Wu Jiu war ein hochfahrender Charakter und beleidigte den lokalen Despoten, der ihn totschlagen ließ. Die Theatertruppe war ohne Kopf, und sofort lief alles auseinander. Meine Großmutter mütterlicherseits hielt mit meiner minderjährigen Mutter an der Hand Totenwache und beerdigte Wu Jiu in der Vorstadt. Just als sie vor dem frischen Grab ihr Papiergeld verbrannt, ihre Kotaus gemacht und von der Seele des Verstorbenen Abschied genommen hatten, kam ein Einpauker für Schriftzeichen vorbei, er war auf einem Ausflug ins Grüne. Man erkannte einander am Tonfall, man war aus der gleichen Gegend, es war Schicksal.
    Bevor meine Großmutter starb, vertraute sie ihre Tochter meinem Vater an, und so verbrachten die beiden ihr Leben im Streit, mit vielen Aufs und Abs. Mutter sagte: »Die Tage vergehen, was heißt da Liebe?« Daraus entstanden vier Kinder.
    In alten Fotografien zu blättern und langsam zu den eigenen Wurzeln zurückzugehen, das ist in vielen traditionellen Familien ein Hauptvergnügen. Leider gab es in meiner Familie keine alten Fotos, die die Zu- und Abneigung aus den frühen Jahren unserer Eltern hätten bezeugen können. Es gibt ein paar Fotos von jedem allein, auf einem ist meine Großmutter mütterlicherseits mit meinem Vater, der Schwester und dem großen Bruder zu sehen – und doch, das alles ist mehr wert als irgendwelche bedeutenden archäologischen Funde.
    Feifei glich aus, was unsere Eltern nicht geben konnten, aus dem monotonen gesellschaftlichen Umfeld der Großen Kulturrevolution hat sie uns viele lebendige Fotografien hinterlassen. Wenn man sie aufeinanderstapelt, sind sie einen halben Mann hoch. Achtzig Prozent sind schwarzweiß. Sie hat jeden neuen Abschnitt unserer Familie sorgfältig dokumentiert, das Leben von zwei Generationen ist hier gesammelt.
    Die Verwandtschaftsbande griffen von diesem alten Grab auf dem Gebiet von Jiangxi in Kreisen immer weiter in die Welt hinaus, und jetzt war Feifei noch vor ihren Eltern zu diesem alten Grab zurückgekehrt.
    Ich steckte die schwarze Trauergaze in den Gürtel und machte, bevor es dunkel wurde, mit zwei Cousinen ein Foto. Der Boden unter mir fing an zu schwanken, als würde die Bühne jeden Augenblick unter mir zusammenbrechen. Ich öffnete einen Vorhang, der gar nicht da war, und
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