Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Augen, ach, Feifei, das warst du, deine Seele hat im Himmel dafür gesorgt, dass das Telegramm zu spät kommt, du hast ganz genau gewusst, was für eine Angst dein Bruder vor dem Tod hat!
    Das kreischende Entsetzen in meinen Ohren ebbte ab, ich löste die roten Seidenbänder und suchte in der Urne nach Feifei.
    »Das ist alles?«, sagte ich traurig.
    »Da war nicht mehr!«, sagte mein Schwager hastig, »ich habe die ganze Zeit aufgepasst, ich habe den Ofen nicht aus den Augen gelassen.«
    Ich schämte mich in Grund und Boden. Die roten Schleifen waren wie ein Bündel kalter Flammen, ihre feinen Zungenspitzen sogen an meinen Fingern, es tat weh.
    »Wenn ich tot bin, dann bringt mich mit ihr heim, nach Lijiaping«, sagte Vater. »Dein Großvater, deine Großmutter, alle sind dort zusammen, unter den Neun Quellen ist es nicht einsam.«
    »Wir sollten Feifei in Chengdu begraben«, widersprach meine jüngere Schwester, »sie hat immer nach Chengdu zurückgewollt.«
    »Ein Mensch geht aus wie ein Licht«, schluchzte ich, warum auch immer, »es ist doch egal.«
    »Wieso soll das egal sein?!«, knurrte Damao.
    Feifei war die Erste aus meiner Familie, die ich verlor. Zwar war Anfang des Jahres mein Großvater gestorben, aber dieser alte Großgrundbesitzer in seinem abgelegenen Bergdorf da oben war nie wirklich ein Teil meines Lebens gewesen, meine Trauer um ihn war reine Formalität, es gehörte sich. Aber Feifei war eine Frucht vom gleichen Stamm, sie war unser Blut, Damao, ich, Xiaofei, wir hingen an ihr nicht weniger als an unserer Mutter.
    Feifei hat ihr Leben lang geschuftet, als kleines Mädchen war sie es gewohnt, sich in dem Bottich mit den großen Füßen um die Dreckwäsche der ganzen Familie zu kümmern. Wenn sie platschend und plätschernd und voller Enthusiasmus zu Werk ging, schmetterte sie Lieder aus alten Filmen.
    Die Gruselgeschichten, die sie erzählte, waren berühmt, vor ihren Totenkammern, Glockentürmen, Geistern von Gehenkten, von deren Zungenspitze drei Meter lange Eiszapfen herunterhingen, huschten wir Geschwister entsetzt unter die Bettdecke und wagten nur noch mit einem Auge nach draußen zu schauen. Einmal war sie mitten in der Nacht plötzlich spurlos verschwunden. Unsere Eltern hasteten in die gemeinsamen Räume, aber Xiaofei und ich beteuerten einmütig, Feifei möge Geister und sei am Ende womöglich einem begegnet.
    Am Vorabend der Kulturrevolution kehrte Feifei ihrem Heimatdorf den Rücken und ging weit weg, zur Holzfabrik in Pingwu; unsere Familie wurde zu einem »Nest von Rinderteufeln und Schlangengeistern« [2] gemacht und von der Diktatur auseinandergerissen. Feifei, dies vorahnend, entging dem allem tief in ihren alten Bergwäldern, wo die Pandas lebten. Und nicht nur das, sie erlebte die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie fälschte ihre Klassenzugehörigkeit, mischte sich unter die Propagandaeinheiten, die die Mao-Zedong-Ideen verbreiteten, spielte in der Modelloper »Shajiabang« [3] die A Qing, das ist die Hauptrolle, und war die Sensation in der Hauptstadt Chengdu. Meine Mutter hat heute noch ein vergilbtes Theaterplakat, Feifei, rank und schlank in einem Schneefeld.
    Damals hatte Feifei so viele Verehrer, dass sie einen Fan-Club gründeten, doch als es unserem Bruder Damao bei den jugendlichen Intellektuellen [4] nicht gutging, war ihr kein Weg zu weit. Früher oder später fiel auch für Xiaofei und mich etwas von dem Glanz ab.
    Einmal sahen wir mit eigenen Augen so einen hübschen jungen Mann, wie er ihr den Hof machte, keinen Erfolg hatte, ein paar Packungen Streichhölzer verschluckte und sich umbrachte. Feifei liefen die Tränen über das Gesicht, aber sie ließ sich durch nichts umstimmen. Als sie später allerdings wirklich an einem Leutnant der Volksbefreiungsarmee Gefallen fand, ging das wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten im politischen Führungszeugnis schief.
    Die Zeit floss dahin, Feifei fand sich einfach damit ab. Sie heiratete, zog um, wurde Mutter von zwei Kindern, schuftete den lieben langen Tag und fand Anerkennung bei den Leuten. Am vierten Tag nach dem Frühlingsfest hatte ich sie in Chengdu zum Bahnhof gebracht, wir ruderten in einem Meer von Menschen zum Fahrkartenschalter, sie zerrte mir ihr Reisebündel von der Schulter, warf es sich über, schnappte sich ihre beiden Kinder, zog sie mit sich weiter, wandte mir noch einmal ganz unwillkürlich den Kopf zu und rief: »Ermao, ich gehe dann mal!« Es war ein Abschied für immer.
    Das war eine Szene auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher